Vielschichtige Formen des Antisemitismus im Alltag

Klartext-Kommentar von "Fulda aktuell"-Redaktionsleiter Bertram Lenz zum aufkeimenden Antisemitismus vor dem Hintergrund der "Kippa-Debatte"
Der folgende Satz ist – gelinde gesagt – ein Armutszeugnis und wirft kein gutes Licht auf die politisch Verantwortlichen in Bund, Stadt und Land. Denn der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hat vor wenigen Tagen konstatiert, Juden könne man nicht empfehlen, „jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen.“ Als Grund nannte Klein antisemitische Straftaten von Rechtsextremen und Muslimen. Diese sind laut Polizeilicher Kriminalstatistik 2018 um 20 Prozent gestiegen.
Man muss sich die Bedeutung der Worte Kleins in Ruhe vergegenwärtigen, um zu sehen, welche gesellschaftliche Sprengkraft sich dahinter verbirgt. Denn der Satz skizziert trefflich die aktuelle Situation und wirft ein bezeichnendes Licht auf die bundesrepublikanische Atmosphäre im Jahr 2019. Verbunden mit der Frage, die man sich stellen muss: Wie antisemitisch ist Deutschland heute, 74 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches, das den Antisemitismus fest in der offiziellen Politik, in der Gesellschaft und somit in den Köpfen seiner Bürger verankert hatte? Mit dem Ziel, jüdisches Leben zu vernichten.
Tatsache ist, dass sich immer mehr jüdische Mitbürger in Deutschland bedroht fühlen. Über Angriffe auf Restaurantbesitzer in Chemnitz und Berlin wurde viel berichtet, ebenso über jüdische Schüler, die von Mitschülern gemobbt und gedemütigt wurden, die ihre Schulen wechselten, Deutschland verließen. Daneben gibt es große und kleine Ereignisse, aber auch zahlreiche Beleidigungen, Sticheleien und Anspielungen.
Denn die Formen des Antisemitismus im Alltag sind vielschichtig und reichen von Hakenkreuzschmierereien und offenem Rassismus über eine Verharmlosung/Relativierung des Holocausts bis hin zur Kritik an der Politik des Staates Israel. Neben der oftmals anonymisierten Welt des Internets, wo unverhohlen Juden diskriminiert und diffamiert werden, haben die Auswüchse inzwischen auch ganz reale Formen angenommen. Mittlerweile stehen viele jüdische Einrichtungen in Deutschland unter Polizeischutz.
Zugleich macht es sehr nachdenklich, dass unter den Migranten, die in der Bundesrepublik Zuflucht gesucht und gefunden haben, der Hass auf Juden anscheinend weit verbreitet ist. Vielleicht froh darüber, andere „Sündenböcke“ gefunden zu haben. Und auch in diesem Zusammenhang vermisse ich klare Aussagen unserer Politiker.
Die aber kommen, zusammen mit Betroffenheitsbekundungen, erst dann, wenn die trügerische Ruhe brachial zerstört worden ist. Will sagen: Wenn es vielleicht zu spät ist.
★
Der anfangs genannte Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Klein, hat übrigens am Dienstag an die Deutschen appelliert, am heutigen Samstag Kippa zu tragen. Damit setze man ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit Juden und trete ein für die uneingeschränkte Religionsfreiheit und gesellschaftliche Vielfalt. Eine gute Idee und zugleich ein gedanklicher Anstoß.