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Unsere Weihnachtsgeschichte 2017: Der arme reiche Königssohn

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Die diesjährige Weihnachtsgeschichte aus der Feder von Wolfgang Lambrecht mit Illustrationen von Patrick Romanowski entführt in die Märchenwelt.

Die FULDA AKTUELL-Weihnachtsgeschichte 2017
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Der arme reiche Königssohn

Geschichte: Wolfgang Lambrecht / Illustrationen: Patrick Romanowski 

Kaum, dass man aus dem Wald herauskam, konnte man es sehen. In großer Entfernung ragte es auf dem Hügel, der sich zwischen Feldern und Wiesen erhob, majestätisch als riesiges Bauwerk empor, umgeben von einer Mauer. Irgendwie erinnerte es an ein Märchenschloss und thronte in der Sonne. Die vornehmen, blauen Ziegel der Dächer glänzten scheinbar mit sich selbst um die Wette. Ein einsamer Turm, der irgendwo am Rande des Gebäudes stand, wuchs hoch hinauf und vermittelte den Eindruck, nicht wirklich dazuzugehören. Allerdings war gerade er in früherer Zeit sehr wichtig – und ist es auch für diese als wahr überlieferte Geschichte.

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Auch wenn das Schloss den Eindruck erweckte, ein Märchenschloss zu sein, es war keines. Es war echt. Und in diesem echten Schloss wohnte der König mit seiner Frau, der Königin, und deren einzigem Kind, dem Königssohn. Dieser lebte nur unter Erwachsenen und wurde streng erzogen, weil er irgendwann einmal selbst ein König werden sollte. Wenn sein Vater, der König, starb, würde er fortan das Königreich regieren müssen. In einem eigenen Flügel des Schlosses hatte er viele Zimmer. Wichtige und weniger wichtige. Es waren so viele, dass er selbst noch nicht einmal alle kannte. In einem anderen Flügel wohnten seine Eltern, die er jeden Tag beim Mittag- und beim Abendessen traf.

Der König fragte ihn oft: „Nun, mein Prinz, was hast du heute erlebt?“ Und bevor der Königssohn antworten konnte, unterhielt sich der König meist schon mit seiner Frau, der Königin, über die für ihn wohl wichtigeren Dinge. Zum Beispiel über die Schlösser, die er neu baute. Das machte er ständig. Oder darüber, wie er mehr Geld verdienen konnte. Und das, obwohl er schon jetzt der reichste König war, den es gab. Mit seinem Geld hätte er bestimmt die ganze Welt und noch mehr kaufen können.

Die Königin dagegen sprach von ihren Kleidern, die sie sich dauernd nähen ließ und anprobieren musste. Oder davon, wie sie das neue Schloss, das gerade fertig geworden war, einrichtete. In seinem Spielzimmer hatte der Königssohn alle Spielsachen, die es gab. Wurden irgendwo neue erfunden, hatte er sie spätestens tags darauf im Schloss. Weil er aber immer alleine damit spielen musste, wurde es ihm oft langweilig. Eines Tages sagte er zu seinem eigenen Hofmarschall, der den Kammerdiener, die Zofen, den Staatssekretär oder die Minister zu befehligen hatte und auf Schritt und Tritt bei ihm war: „Hofmarschall, mir ist langweilig. Deshalb möchte ich heute gerne einmal den Gang an meinen Zimmern entlang bis zum Ende gehen und überall dort hineinschauen, wo ich noch nicht war.“ „Wenn Ihr das wünscht, mein Prinz, dann werden wir das tun.“ „Warum kann ich das nicht alleine machen?“, fragte der Königssohn. „Weil es der König so angeordnet hat, mein Prinz.“ Und wenn ein König etwas anordnete, dann musste es auch so geschehen.

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„Können wir ganz hinten anfangen?“, wollte der Königssohn wissen. „Gewiss, mein Prinz, wie Ihr es wünscht.“ Nun schritten beide nebeneinander den Gang entlang. Der kleine Königssohn hatte die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt, weil das sein Vater ebenso tat. Der Hofmarschall ließ die Arme steif nach unten hängen und schwang sie beim Gehen noch nicht einmal mit. Eigentlich hatten die Beiden gedacht, der Gang sei direkt an der hinteren Mauer zu Ende. Aber er bog nach links ab. Nur wenige Meter zwar, aber er bog ab. Eine kleine, stabile Tür aus Holz schaute sie an. „Ist das eine Tür?“, fragte der Königssohn. Der Hofmarschall antwortete: „Gewiss, mein Prinz.“ „Eine richtige Tür?“ „Ja“, antwortete der Hofmarschall, „es ist eine richtige Tür.“ „Hast du sie schon einmal geöffnet?“ „Nein, mein Prinz, das habe ich noch nicht getan.“ „Was verbirgt sich dahinter?“ „Das kann ich Euch nicht sagen, mein Prinz. Ich habe sie ja noch nie geöffnet. Ich wusste bisher nicht einmal, dass es hier eine Tür gibt.“ „Kannst du sie für mich öffnen?“ „Ich will es versuchen, mein Prinz.“

Mit diesen Worten drückte der Hofmarschall die schwarze, gebogene Klinke hinunter. Aber die Tür ließ sich nicht öffnen. „Sie scheint verriegelt zu sein“, stellte der Hofmarschall fest. „Du hast doch die vielen Schlüssel für meine Zimmer an deinem Gürtel. Meinst du nicht, der passende könnte dabei sein?“ „Ich werde es sofort versuchen, mein Prinz.“ Nun probierte der Hofmarschall jeden einzelnen Schlüssel, steckte ihn ins Schloss, sofern das ging, und versuchte ihn zu drehen. Aber die Tür ließ sich nicht aufschließen. „Kannst du den passenden Schlüssel besorgen?“ „Ich werde nach ihm schicken lassen, mein Prinz.“

Schon rief der Hofmarschall nach dem Kammerdiener und schickte ihn zum Innenminister. Dieser wiederum beauftragte seinen Staatssekretär mit der Suche nach dem richtigen Schlüssel. Denn der hatte einen großen Schrank. Und hier hingen überall Schlüssel. Für das ganze Königsschloss. Jeder dieser Schlüssel trug eine Nummer. Und ein Schild, für was er da war. Der Staatssekretär nahm hochkonzentriert und pflichtbewusst jeden einzelnen vom Haken, las das Schild und hängte ihn zurück. Angefangen hatte er bei Schlüssel Nummer 1. Spät in der Nacht war er bei Schlüssel 3467 angekommen und hängte ihn erschöpft und enttäuscht auf seinen Platz zurück. Anschließend meldete er dem Innenminister, dass der richtige Schlüssel nicht dabei sei.

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Der Innenminister lief zum Hofmarschall und berichtete. Weil dieser sich über den fehlenden Schlüssel sehr ärgerte, berief er für den nächsten Tag eine Ministerkonferenz ein. Daran mussten der Innenminister, der Bildungsminister, der Wirtschaftsminister, der Finanzminister, der Bauminister und sogar der Kriegsminister teilnehmen. Aber keiner wusste, wo der Schlüssel war oder wohin die Tür führte. Sie wussten noch nicht einmal, dass es dort überhaupt eine Tür gab. Der Schreiber, der das Protokoll dieser Konferenz zu schreiben hatte, machte einen Vorschlag: „Wenn der Schlüssel nirgends zu finden ist, sollten wir den Schlossermeister damit beauftragen, die Tür zu öffnen. Oder aufzubrechen.“

Die Minister waren entsetzt und keineswegs einverstanden. Denn dieser Vorschlag kam nicht von ihnen, er kam von einem einfachen Protokollschreiber. Aufgeregt liefen an diesem Tag alle Minister, der Staatssekretär und der Kammerdiener durcheinander und suchten nach dem verschollenen Schlüssel. Doch der war nirgends aufzufinden. Das teilten sie dem Hofmarschall mit und unterbreiteten ihm den Vorschlag, der Schlossermeister möge bestellt werden um die Tür zu öffnen. Entweder mit einem Schlüssel oder mit der Brechstange. Der Hofmarschall hielt das für eine gute Idee, lobte die Minister für diesen Vorschlag und erteilte sofort den Auftrag zur Beauftragung des Beauftragens des Schlossermeisters.

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„Mein Prinz“, begann der Hofmarschall, „wir haben den Schlossermeister beauftragt, morgen die Tür zu öffnen.“ „Das ist gut. Aber ich möchte dabei sein. Und niemand darf vor mir durch diese Tür gehen, immerhin habe ich sie entdeckt.“ „Es wäre vielleicht sinnvoll, mein Prinz, wenn ich zuerst durch die Tür gehe und schaue, was sich dahinter verbirgt, es könnte gefährlich sein.“ „Nein, das möchte ich nicht, ich gehe als Erster durch diese Tür.“ „Dann lasst uns darüber reden, wenn es so weit ist, mein Prinz.“ Damit war der Königssohn einverstanden. Weil es bereits Abend war, musste er sich schnell zum Essen fertigmachen und konnte nicht lange diskutieren. Als er mit seinen Eltern zusammentraf, wollte er wissen: „Vater, darf ich dich etwas fragen?“ „Gewiss, mein Prinz“, antwortete der König, „frag nur zu.“ „Weißt du, wofür die kleine Tür am Ende meines Ganges ist? Dort wo er um die Ecke biegt?“ „Der Gang biegt um die Ecke? Das wusste ich gar nicht. Und dort ist eine Tür? Was ist das für eine Tür?“ „Das will ich doch von dir wissen“, bat der Königssohn. „Dann frage einfach deinen Hofmarschall.“ „Der weiß es nicht.“

Der König überlegte: „Ich kenne diese Tür nicht. Möglicherweise ist dahinter eine Rumpelkammer oder so etwas. Vielleicht lasse ich sie einfach zumauern. Wenn selbst dein eigener Hofmarschall nicht weiß, was das für eine Tür ist, dann kann sie nicht wichtig sein.“ Mit diesen Worten wandte er sich zur Königin und begann zu erzählen, dass er in der nächsten Woche ein neues Schloss bauen wolle. In der Nacht war der kleine Königssohn ganz aufgeregt und dachte ständig an die kleine Tür. Er malte sich die spannendsten Dinge in seinen Gedanken aus, was sich dahinter alles verbergen könnte. Hoffentlich würde sie der Schlossermeister öffnen können.

Am nächsten Tag versammelten sich neugierig der Staatssekretär, der Innenminister, der Kammerdiener und zwei Zofen bei der kleinen Tür. Alle wollten wissen, was sich dahinter verbarg. Natürlich waren auch der Königssohn und der Hofmarschall da. Endlich kam der Schlossermeister um die Ecke. Groß und mit breiten Schultern. „Bist du stark?“, wollte der Königssohn mit weit aufgerissenen Augen wissen. „Ja, ich bin einer der stärksten Männer im Königreich“, antwortete der Schlossermeister. „Bist du auch so stark, dass du mich hochheben kannst?“ „Mit Leichtigkeit“, lachte der Schlossermeister. „Dann setz mich auf deine Schulter.“ Verlegen schaute der Schlossermeister erst den Hofmarschall und dann den Staatssekretär an. Aber keiner von ihnen sagte einen Ton, noch nicht einmal ein Schulterzucken war zu sehen. So verblüfft waren sie. Der kleine Königssohn nickte schlau und meinte: „Ich wusste ja, dass du es nicht kannst.“

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Der Schlossermeister bückte sich: „Dann werde ich dir das jetzt eben zeigen.“ Mit seinen großen Händen packte er den Königssohn an den Oberarmen und setzte ihn mit einem leichten Schwung auf die Schultern. Die beiden Zofen, die das von hinten beobachtete hatten, schrien erschrocken auf. Der Staatssekretär steckte sich die Faust in den Mund und der Hofmarschall zuckte zusammen und rief „Halt!“ Aber da war es schon zu spät. Der Königssohn saß auf den breiten Schultern des Schlossermeisters und spürte, wie ihn die kräftigen Hände sicher an den Beinen hielten. Er lachte: „Das hat von euch noch niemand fertiggebracht! Jetzt bin ich größer als ihr alle zusammen.“ Nun beugte er sich etwas nach vorne und sah dem Schlossermeister seitlich in die Augen: „Wenn du so stark bist, kannst du bestimmt auch die kleine Tür da aufmachen.“ Er zeigte mit der rechten Hand auf die Tür. „Bestimmt kann ich das. Allerdings muss ich dich dazu erst wieder herunternehmen.“ „Schade, am liebsten würde ich hier oben sitzen bleiben. Aber die Tür ist mir wichtiger.“

Mit einem erneuten Schwung stellte der Schlossermeister den Königssohn auf dem Boden ab und bückte sich, um die kleine Tür in Augenschein zu nehmen. „Die ist wahrlich schon lange nicht mehr geöffnet worden. Scharniere und Schloss scheinen recht fest zu sein. Sollte sie sich nicht mit dem Schlüssel öffnen lassen, muss ich sie wohl aufbrechen.“ Er hängte den großen Ring mit über einem Dutzend Schlüsseln aus dem Gürtel aus und hob ihn in Augenhöhe. „Dich nehmen wir!“, sagte er, griff einen Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Dann drehte er ihn langsam nach links. „Das Schloss ist reichlich fest“, sagte er und drehte stärker.

Mit einem „Kracks“ brach der Schlüssel ab, begleitet von einem vielstimmigen, entsetzten „Oooh“. „Dann nehme ich eben einen stabileren, dickeren.“ Wieder hob er den Ring in Augenhöhe, suchte einen Schlüssel heraus, steckte ihn ins Schloss und drehte erneut. Vorsichtig, mit viel Gefühl. Dieser Schlüssel sollte nicht auch noch abbrechen. Mit einem knirschenden Geräusch sprang das Schloss auf, gefolgt von einem erstaunten, vielstimmigen „Aaaah!“. „Halt“, rief der Königssohn, „ich gehe zuerst hinein. Ich habe die Tür entdeckt und sie liegt auf meinem Flur. Deshalb steht mir das zu.“

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Der Hofmarschall erhob Einspruch: „Mein Prinz, hinter der Tür könnte es gefährlich sein. Lasst den Schlossermeister zuerst hineinschauen, er ist der Stärkste von uns.“ Doch der Königssohn ließ sich nicht beirren. Er hatte die halbe Nacht damit verbracht, sich in Gedanken auszumalen, was hinter der Tür sein könnte. „Nein, die Tür gehört zu meinen Zimmern und ich habe sie entdeckt. Deshalb gehe ich zuerst hinein. Außerdem passt der Schlossermeister gar nicht durch diese Tür. Für ihn ist sie zu klein.“

Der Hofmarschall war nicht einverstanden: „Dann sollten zumindest wir beide gleichzeitig und zusammen nachsehen, mein Prinz.“ Doch der Königssohn drückte bereits so fest er konnte gegen die Tür. Gespannt und ohne zu atmen standen die Zofen, der Staatssekretär, der Innenminister und der Kammerdiener da und starrten auf die Tür, die sich mit einem lauten Knarren langsam und schwerfällig aufschob. Dahinter war es dunkel. Sehr dunkel. Nichts zu sehen.

Als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte der Königssohn eine Treppe: „Außer einer Treppe kann ich hier nichts erkennen“, sagte er und war flugs hinter der Tür verschwunden. Er lief die schmale, steile Treppe hinauf, die sich wie ein Kreisel nach oben drehte. Der Hofmarschall, der vom König den Auftrag hatte, den Königssohn überall hin zu begleiten, versuchte zu folgen. Die anderen blieben an Ort und Stelle. Viele Stufen waren es. Sehr viele. Während der Königssohn hastig hinaufrannte, musste der Hofmarschall ab und zu stehen bleiben und schnaufend eine Pause einlegen.

Am Ende der Treppe war ein runder, staubiger und schmutziger Raum. Kleine Öffnungen wie Fenster ohne Glas zeigten nach allen Seiten. Der kleine Königssohn stand mit offenem Mund da und schaute fasziniert in die Ferne. Je nachdem, wo er gerade stand wenn er nach unten sah, blickte er auf den Küchengarten, den Innenhof, das Dach des Schlosses oder in den Rosengarten. Schnaufend und außer Atem erreichte nun auch der Hofmarschall das Ende der Treppe. Der Königssohn forderte ihn auf: „Komm her, schau mal nach unten wie hoch wir sind und wie klein alles ist.“

Vorsichtig näherte sich der Hofmarschall und streckte seinen Hals. Er wollte nicht allzu nah an die Öffnung herantreten. „Mein Prinz, ich denke, dass das nichts für mich ist. Ich habe Höhenangst. Am liebsten würde ich gleich wieder hinuntersteigen.“ „Dann tu das doch, ich kann auch alleine hier bleiben.“ „Mein Prinz, Ihr wisst, was der König angeordnet hat.“ „Er wird es nicht erfahren, ich werde ihm nichts sagen.“ „Eigentlich, mein Prinz, darf ich Euch nicht alleine lassen. Aber heute mache ich eine Ausnahme.“

Erleichtert drehte sich der Hofmarschall um und stieg die Treppe langsam wieder hinunter, froh von hier oben wegzukommen. Der Königssohn blieb noch ein wenig und stieg von nun an jeden Tag auf den Turm. Alleine. Weil der Hofmarschall Höhenangst hatte. So stellte sich der kleine Königssohn in seiner Fantasie vor, er sei die Wache des Schlosses, hätte gerade Feinde entdeckt und diese gemeldet. Als Ritter und Kämpfer ritt er hinaus und besiegte den herannahenden Gegner. Dabei machte er die entsprechenden Bewegungen und glaubte sich mitten im Abenteuer. Einmal flog er sogar als Adler über das Königreich und betrachtete es von oben. Hier war er alleine und konnte tun was er wollte, ohne ausgelacht oder zurechtgewiesen zu werden.

Etwa zwei Wochen, nachdem der Königssohn das erste Mal hier oben war, sah er in weiter Ferne zwei Pferde auf sich zukommen. Sie zogen einen Heuwagen, auf dem Leute saßen. Auf einem Feld wurde das Gespann angehalten, die Menschen sprangen herunter und begannen Heu zu machen. Dazu wendeten sie das abgeschnittene Gras mit ihren Rechen so lange, bis es getrocknet war. Die kleineren Kinder, die dabei waren, spielten und tobten in dieser Zeit auf dem Feld herum.

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Ein Junge, der genauso alt hätte sein können wie er selbst, fiel ihm gleich auf. Still stand der Königssohn an der Öffnung, sah hinüber zu den Kindern und beobachtete sie. Einige Tage ging das so und der Königssohn begann, sich mit den Kindern zu unterhalten. Die konnten ihn natürlich nicht hören und nicht sehen, wussten wahrscheinlich gar nicht, dass er hier war. Aber sie antworteten ihm. In der Fantasie. So führte der Königssohn Gespräche mit den Kindern. Den Jungen, der ihm sofort aufgefallen war, nannte er Otto.

Leider war die Zeit der Heuernte bald vorüber und die Kinder kamen nicht mehr auf das Feld. Deshalb spielte der Königssohn wieder andere Spiele auf dem Turm. Gerade, als er auf der einen Seite nach unten schaute und sich abseilen wollte – nicht in echt, nur im Spiel -, schlenderte ein Junge den Weg entlang, direkt auf das Schloss zu. Er hatte einen kleinen Korb in der Hand und näherte sich Schritt für Schritt. An der Art der Bewegung erkannte der Königssohn, dass es sich um Otto handelte. Schon bald war dieser im Küchengarten eingetroffen, ging den schmalen Weg entlang und verschwand durch die Tür in Richtung Küche.

Das Herz klopfte dem Königssohn bis zum Hals. Er drehte sich um und rannte so schnell er konnte die Treppe hinab. Dabei nahm er immer mindestens zwei Stufen auf einmal. Unten angekommen hastete er durch den Gang zur Tür, die in den Küchengarten führte und sprang hinaus. Hier versteckte er sich hinter einer kleinen Hecke, die den Weg begrenzte. Hoffentlich war er schnell genug gewesen und Otto nicht schon weg. Da öffnete sich die Tür und der Junge kam heraus. Pfeifend und den Korb schwenkend lief er den Weg an der Hecke entlang.

Wie zufällig trat der Königssohn hervor. Der Junge blieb kurz stehen und sie sahen sich in die Augen. „Hallo“, sagte der Königssohn. „Hallo“, entgegnete Otto. „Was machst du hier?“ „Ich habe Eier gebracht“, antwortete Otto. „Und wo willst du jetzt hin!“ „Nach Hause. Ich muss wieder zurück.“ „Ach so“, nickte der Königssohn, „ja, dann tschüss.“ Otto antwortete: „Ja, tschüss.“ Kurz darauf verschwand er auf dem geschwungenen Weg zwischen den Sträuchern. Aufgeregt hatte ihm der Königssohn hinterhergesehen und einmal hatte sich Otto sogar umgedreht.

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Plötzlich erschrak der Königssohn. Wenn ihn hier jemand sah. Ohne Begleitung. Das würde mächtig Ärger geben. Schnell eilte er zurück zu der Tür, aus der er gekommen war. Ausgerechnet jetzt musste ihm die kleine Zofe begegnen. Sie verbeugte sich und machte einen Knicks. Der Königssohn fragte: „Kennst du den Jungen, der eben die Eier gebracht hat?“ „Gewiss, mein Prinz. Der Junge bringt an jedem Mittwoch die Eier.“ „Ist heute Mittwoch?“ „Gewiss, mein Prinz. Der Junge hat die Eier gebracht.“ „Sag niemandem, dass du mich hier gesehen hast, bitte.“ „Nein, mein Prinz, das werde ich nicht tun.“ „Versprochen?“ „Gewiss, mein Prinz, versprochen.“ Kurz darauf huschte er heimlich zur Tür hinein in den Gang.

Im Bücherzimmer saß der Hofmarschall und blätterte in einem Buch. Als der Königssohn eintrat, erhob sich der Hofmarschall. „Ihr seid schon wieder unten, mein Prinz?“ „Ja. Sag, kannst du pfeifen?“ Der Hofmarschall tat ganz erstaunt: „Aber mein Prinz, Pfeifen ist etwas für die einfachen Leute.“ „Kannst du es?“ „Hier am Hof hat noch niemand gepfiffen, mein Prinz.“ Das hatte keinen Zweck, hier kam er nicht weiter. „Ist heute Mittwoch?“ „Gewiss, mein Prinz, heute ist Mittwoch. Warum möchtet Ihr das wissen?“ „Ach, nur so.“ Er holte sich ein Buch aus dem Schrank und blätterte darin. Es war ihm nicht aufgefallen, dass er es verkehrt herum hielt.

Er dachte ständig an Otto und an den nächsten Mittwoch. Die restliche Woche verging ebenso langsam wie die neue begann. Die Zeit schlich dahin und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis endlich wieder Mittwoch war. Der Königssohn stand an der Öffnung in seinem Turm und wartete darauf, dass Otto irgendwo auf dem Weg auftauchte. Da! Da war er. Mit seinem Korb in der Hand. Wie der Wind rannte der Königssohn die Treppe hinunter und hinaus in den Küchengarten.

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Noch halb außer Puste sprach er den Jungen, der mittlerweile hier eingetroffen war, an: „Hallo. Du bringst jeden Mittwoch die Eier?“ „Ja“, antwortete der Junge kurz, „die will ich auch schnell abgeben, sonst bekomme ich Ärger wenn ich zu spät bin.“ „Tu das. Ich warte hier auf dich.“ „Gut.“ Mit wenigen Schritten war der Junge an der Tür zur Küche angekommen und verschwand, um kurz darauf wieder herauszukommen. „Hast du die Eier abgegeben?“ „Natürlich. Deshalb bin ich doch hier.“ „Willst du mit mir auf den Turm?“, fragte der Königssohn, „Da oben ist es richtig schön.“ „Ich habe leider keine Zeit“, antwortete der Junge. „Aber wenn du es möchtest, dann könnte ich dich am Sonntag besuchen. So gegen 2 Uhr am Nachmittag. Du musst mich an der Tür dort hinten in der Mauer abholen, denn alleine darf ich hier nur mittwochs hinein.“ „Gut, am Sonntag um 2 Uhr.“ „Ja.“ Pfeifend ging der Junge den Weg entlang, so wie er es vor einer Woche auch getan hatte, und schlenderte seinen Korb.

Der Königssohn sah ihm nach und das Herz schlug kräftig in der Brust. Es fühlte sich so an, als hätte er zum ersten Mal in seinem Leben einen Freund gefunden. Auf dem Weg zurück begegnete dem Königssohn wieder die kleine Zofe mit einem Knicks. „Kannst du pfeifen?“, wollte der Königssohn wissen. Die kleine Zofe errötete leicht: „Gewiss, mein Prinz, das kann ich.“ „Lass es mich hören.“ Die Zofe spitzte ihre Lippen, doch heraus kam vor lauter Nervosität nur ein Zischen. Sie schluckte und versuchte es erneut. Diesmal klappte es. Auch wenn es nicht die schönsten Töne waren, als Pfeifen konnte man es erkennen. „Zeig mir wie du das machst. Ich möchte es lernen.“ „Mein Prinz, Ihr müsst eure Lippen spitzen“, begann die Zofe und dann erklärte sie und erklärte. „Danke, das werde ich üben“, sagte der Königssohn, „ich muss wieder hinein.“ „Ja, mein Prinz, ich muss auch weiter.“ So gingen sie beide ihrer Wege.

Der Königssohn stieg wieder die Treppe hinauf in den Raum ganz oben im Turm. Hier war er alleine und konnte üben. Nach etlichen Versuchen hatte er den Eindruck, der erste Pfeifton sei seinen Lippen entsprungen. Aber kurz darauf folgten wieder nur Zischlaute. Geduldig übte und übte er und am Abend, als er die Treppe hinunterstieg, konnte er schon einen Ton. Die nächsten Tage bis zum Sonntag wollte er weiter üben, um vielleicht gemeinsam mit Otto eine Melodie pfeifen zu können. Endlich kam der Sonntag. Der Hofmarschall hatte frei und der private Lehrer übernahm in dieser Zeit die Aufsicht. Er las die meiste Zeit in den Büchern und war froh, wenn der Königssohn alleine in seinen Räumen oder auf dem Turm unterwegs war.

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Schon kurz vor zwei Uhr stand der Königssohn an der beschriebenen Tür und wartete. Diese öffnete sich und der Junge schaute mit seinem Kopf hinein. „Hallo“, begrüßte ihn der Königssohn, „schön, dass du da bist. Ich hatte schon Angst, du würdest vielleicht nicht kommen.“ „Ich habe dir gesagt, dass ich um 2 Uhr hier sein werde – und dann bin ich es auch.“ „Komm, wir gehen in den Turm. Aber wir sollten leise sein, niemand weiß von deinem Besuch.“ So schlichen die beiden Jungen durch den Küchengarten, der eine mit alter, der andere mit feiner, vornehmer Kleidung. Unterschiedlicher hätte es nicht sein können.

Auf dem Turm angekommen sagte der Königssohn: „Ich habe dich von hier aus oft bei der Heuernte beobachtet. Wie heißt du?“ „Ich heiße Otto“, antwortete der Junge. Der Königssohn war unsicher. Träumte er? Oder hatte der Junge etwas mitbekommen von den Fantasiegesprächen im Turm? „Heißt du wirklich Otto?“ „Ja, warum? Gefällt dir der Name nicht?“ „Doch, doch“, antwortete der Königssohn und erzählte nun seine Geschichte. Die Jungen lachten und Otto fragte: „Und du? Wie heißt du?“ „Ich heiße Konstantin Oscar Sturmhart Cäcilius Heinrich Ignatius.“ „So einen langen Namen hast du? Wenn ich von jedem nur den ersten Buchstaben nehme, dann heißt das Koschi. Hast du etwas dagegen, wenn ich dich so nenne?“ „Nein, das hört sich schön an.“

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„So lange Namen haben für gewöhnlich nur Könige und Prinzen. Bist du etwa der Prinz?“ „Ja, der bin ich.“ „Aber du darfst doch nicht mit einem Jungen wie mir reden, wir dürfen nicht zusammen sein. Das verbietet der Hof“, erschrak Otto. „Das wird schon niemand erfahren. Und außerdem sind wir doch Freunde. Wie kommst du eigentlich zu dieser Türe herein? Normalerweise ist sie abgeschlossen.“ „Das ist ein Geheimnis und du darfst es niemandem verraten. Bei uns zuhause gibt es einen Schlüssel. Den hatte schon mein Großvater und der Großvater meines Großvaters. Sie alle standen, ebenso wie mein Vater, im Dienste des Königs. Mein Ururgroßvater war sogar Wächter auf diesem Turm. Der Schlüssel ist schon sehr alt. Genaugenommen sind es zwei Schlüssel, aber bei dem einen wissen wir gar nicht, zu welchem Schloss er gehört.“ „Otto, ich glaube zu wissen, wofür der zweite Schlüssel ist.“

Jetzt erzählte der Königssohn von der kleinen Tür zum Turm, die der Schlossermeister geöffnet hatte, weil nicht einmal im Schrank des Staatssekretärs ein Schlüssel vorhanden war. Erschrocken sagte Otto: „Aber ich habe den Schlüssel heimlich genommen und muss ihn wieder zurückhängen. Bitte, ich kann ihn dir nicht geben.“ „Wer sagt denn, dass du ihn mir geben sollst? Ich möchte ihn nicht, behalte ihn.“ Die beiden Jungen genossen die Aussicht, spielten gemeinsam Fantasiespiele und lachten und schwätzten. Als es schon fast Zeit für das Essen war, musste Otto gehen. Der Königssohn brachte ihn wieder zur Tür in der Mauer und ging selbst zurück in sein Bücherzimmer.

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Das war der schönste Tag des Lebens. Von nun an trafen sich die Jungen jeden Sonntag, bis... ...eines Tages der Hofmarschall früher von seinem freien Tag zurückkehrte und ausgerechnet in dem Augenblick im Gang stand, als die beiden Jungen vom Turm herunterkamen. Oje, war das ein Ding! Wie viele Fragen die Beiden beantworten mussten. Anschließend brachte der Kammerdiener Otto nach Hause und der Königssohn musste den Hofmarschall zum König und zur Königin begleiten. Otto bekam mächtig Ärger und durfte zukünftig noch nicht einmal mehr die Eier zum Hof bringen. Das machte ab sofort seine kleine Schwester. Der Hofmarschall erzählte dem König und der Königin, dass sich ihr Sohn mit einem Bauernjungen am Turm aufgehalten habe und so etwas doch am Hofe nicht ginge.

Der König war entsetzt, die Königin fand es nicht so schlimm. Alles würde sich irgendwann von alleine regulieren, meinte sie. Doch König und Hofmarschall waren sich einig. Otto durfte nie wieder einen Fuß auf den Hof setzen oder das Schloss betreten. Und auch nicht den Turm. Was er dann sowieso nicht konnte. Bald darauf erkrankte der Königssohn und keine Medizin half. Der Leibarzt des Königs war ratlos und hatte schon viele Hausmittel ausprobiert. An einem Mittwoch, es war der 23. Dezember, so ist es überliefert, suchte der Arzt den König und die Königin auf und sagte: „Eure Majestät, mein König, meine Königin. Ich glaube, ich habe ein Medikament für den Prinzen gefunden.“ „So? Da sind wir aber neugierig.“ „Ich sprach mit der kleinen Zofe aus der Küche. Sie erzählte mir von ihren Beobachtungen. Wie glücklich der Prinz war, solange es den Bauernjungen Otto für ihn gab und feststand, dass sie sich jeden Sonntag treffen würden. Ich denke, der Prinz wird wieder gesund, wenn wir Otto an den Hof holen. Er vermisst seinen Freund.“ „Das kommt nicht in Frage!“, winkte der König energisch ab, „Mit diesem primitiven Bauernlümmel wollen wir nichts zu tun haben.“

„Gestattet, mein König, meine Königin, der Bildungsminister ist mit dem persönlichen Privatlehrer des Prinzen an den vergangenen Tagen mehrfach auf den Hof des Jungen gefahren. Die Beiden haben ihn dort auf sein Wissen und seine Fähigkeiten getestet. Es ist ein überdurchschnittlich begabter Junge mit sehr guten Manieren. Otto könnte hier am Hof einige Aufgaben übernehmen und gleichzeitig ein Freund und Vertrauter des Prinzen werden.“ Das Gespräch dauerte bis spät in die Nacht. Am nächsten Tag war der Heiligabend und alle Angestellten, alle Minister, Kammerdiener, Zofen – alle, sogar der König und die Königin, erhielten Geschenke oder wurden überrascht.

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Der Prinz freute sich normalerweise sehr auf diesen Abend, weil es der Tag war, an dem sogar seine Eltern Zeit für ihn hatten. Jedes Jahr am 24. Dezember ruhten die Pläne von neuen Schlössern und Kleidern. An diesem einen Tag waren König, Königin und Königssohn eine richtige Familie. Aber in diesem Jahr war alles anders. Der Königssohn erhielt viele Geschenke, packte eines nach dem anderen aus und bedankte sich artig. Aber keines wollte ihn so richtig erfreuen. Die Königin sagte: „Wir haben in diesem Jahr noch ein ganz besonderes Geschenk für dich. Aber damit musst du sehr sorgsam umgehen, es ist etwas Lebendes.“

Normalerweise hätte sich der Königssohn über einen Hund, eine Katze, einen Papagei oder ein Pferd gefreut. Doch in diesem Jahr? Der Staatsdiener öffnete die Tür und führte Otto in vornehmer Kleidung herein. Ganz verändert sah er aus. Das alles bemerkte der Königssohn aber nicht, weil er traurig auf den Boden blickte und an seinen Freund dachte. An seinen Freund, den er nie mehr im Leben wiedersehen sollte. Nur weil er ein Bauernjunge war.

„Fröhliche Weihnachten“, sagte eine Stimme. Der Königssohn hörte das nicht. Er sah weiterhin nur auf den Boden. Zu sehr dachte er an seinen Freund. Wieder ertönte die Stimme: „Fröhliche Weihnachten, Koschi!“ Der Königssohn zuckte zusammen. Koschi? Hatte da jemand Koschi gesagt? So nannte ihn nur einer! Das war nicht möglich! Er hob den Kopf, sprang auf und rannte los. „Otto“, rief er freudig, „Otto, du bist hier!“ Auch Otto rannte los: „Koschi! Endlich!“ Jubelnd schlossen sich die beiden Jungen in die Arme und hüpften auf der Stelle. Sie hatten sich wieder und wussten, dass sie für den Rest ihres Lebens Freunde sein konnten. Auch wenn der eine ein Königssohn und der andere ein Bauernjunge war.

ENDE

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Zur Weihnachtsgeschichte 2016 (Christopher Göbel / Patrick Romanowski)

Zur Weihnachtsgeschichte 2015 (Wolfgang Lambrecht / Dennis Lohausen)

Zur Weihnachtsgeschichte 2014 (Wolfgang Lambrecht / Dennis Lohausen)

Zur Weihnachtsgeschichte 2013 (Wolfgang Lambrecht / Dennis Lohausen)

Zur Weihnachtsgeschichte 2012 (Wolfgang Lambrecht / Dennis Lohausen)

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