1. lokalo24
  2. Lokales
  3. Kassel

Einsam und doch ge-/verbunden: Wiederaufnahme von „19762“ begeistert im Theater im Fridericianum

Erstellt:

Von: Ulf Schaumlöffel

Kommentare

Das Stück 19762 erforscht die Möglichkeiten des Körpers und des Tanzes, aber auch seine Grenzen, sowohl physisch als auch emotional. Im Bild: Anna Gorokhova von TANZ_KASSEL.
Das Stück 19762 erforscht die Möglichkeiten des Körpers und des Tanzes, aber auch seine Grenzen, sowohl physisch als auch emotional. Im Bild: Anna Gorokhova von TANZ_KASSEL. © Foto: Corinna Rosteck

Die spanische Choreografin Candela Capitán zeigt im TiF eine faszinierende Kapitalismuskritik.

Kassel Als eine Mischung aus Bondage-Gerät und Jahrmarkt-Karussell lässt sich wohl das Bühnenbild am besten beschreiben, dass die Besucher der Produktion im Theater im Zentrum (TiF) zu Beginn erwartet. Langsam dreht sich das Karussell und Ketten rasseln auf dem Boden. Choreografin Candela Capitán beschreibt den Apparat als Maschine. Und als Artefakt der Verführung und Täuschung.

„Ein Apparat, der die Körper zur Routine verdammt - ein Objekt, mit dem die Performer:innen während der gesamten Dauer der Aufführung zurechtkommen müssen. Dieses Karussell stellt die Figur des Kapitalismus dar und hält die Körper in sich gefangen, indem es sie zwingt, gleichzeitig allein, einsam und doch ge-/verbunden zu sein“, erklärt die Performancekünstlerin im Programmheft von „19762z“ weiter.

Zeitgleich mit der Eröffnung der documenta im letzten Jahr sorgte die Choreografin mit der Uraufführung von „1 9 7 6 2“ bereits für große Begeisterung bei den Tanztheaterfans. Bei der Wiederaufführung am Mittwochabend gab es ebenfalls langen Applaus.

In dem Stück, das die Spanierin für TANZ_KASSEL im Rahmen der neuen Tanzreihe „Season 1: Let‘s Talk About Sex“ kreiert hat, erforscht und hin­terfragt die 26-Jährige die maximale Vernetzung und maximale Einsamkeit der Generation der Post-Millenials in Zeiten des Smartphones, immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen.

Es ist in sieben Abschnitte unterteilt, die dem Publikum ermöglichen, den emotionalen Zustand der Körper, ihre affektive Verortung oder den Verfall in Routinen leicht zu erkennen. Durch die sechs Körper, die mit Ketten an die Maschine verbunden sind und das dominierende Karussell werden verschiedene Atmosphären geschaffen, die sowohl geordnet und ungeordnet sind und das Skelett des Stücks markieren. 19762 erforscht die Möglichkeiten des Körpers und des Tanzes, aber auch seine Grenzen, sowohl physisch als auch emotional. Ein ewiges Hin und Her zwischen Schönheit und Gewalt. Ein Hin und Her zwischen Körpern.

Die Stücke der Performancekünstlerin haben immer einen harten Teil, der von unserer Realität spricht, von dem, was heute in der Welt und um uns herum passiert.

Im Interview mit Staatstheater-Tanzdirektor Thorsten Teubl beschreibt Capitán das Karussell als naives und manipulatives Instrument. „Genau wie der Kapitalismus und die sozialen Netzwerke. Wir werden von sozialen Netzwerken und intelligenten, mobilen Geräten beherrscht. Wir sind fügsame Körper, die sich an Normen, Richtlinien und Regeln halten. Das Smartphone ist Teil der Ausrüstung unseres Lebens und hält uns in einem fremden Lebenssystem gefangen. Aber wir sind auch ungehorsame Körper - Körper, die ihre Ablehnung mit Gewalt manifestieren, die ihre Befreiung in der Flucht, in der Liebe und im Begehren suchen. Wir sind Körper, die allein und doch verbunden sind. Das Karussell zu betreten ist wie der Eintritt in die TikTok-Welt: Man tritt auf naive Weise ein, um in einen Mechanismus aus Verführung und Täuschung gefangen zu sein.“

„Das muss man einfach gesehen haben. Das Stück nimmt einen total mit“, so eine Besucherin nach der Aufführung

Es tanzten: Gil Amishai, Hyeonwoo Bae, Yannis Brissot, Anna Gorokhova, Leva Nackivickaité und Sophie Ormiston.

Wer es noch sehen möchte, hat am Freitag, 21. April, um 20.15 Uhr nochmal Gelegenheit dazu.

Zur Person: Candela Capitán (Choreografie und Inszenierung): Die Choreografin, Tänzerin und Performancekünstlerin Candela Capitán wurde 1996 in Sevilla geboren. Ihre Arbeiten erforschen die Aktivierung und Deaktivierung sozialer Bindungen, indem sie den Körper in Beziehung zu anderen Körpern, Objekten und kollektiven Bildern setzt.

Die neuen Kommunikationstechnologien, grenzüberschreitende Beziehungen zwischen künstlerischen Disziplinen und die intergenerationellen Konflikte und ihre Folgen sind einige der Themen, mit denen sich Candela Capitán in ihren Projekten auseinandersetzt. Davon ausgehend kreiert sie Traumräume und Parallelrealitäten in Form von Choreografien, Installationen und Performances, die die Zuschauer:innen einladen, unmittelbar an den Spannungen, Genüssen und Täuschungen auf der Bühne teilzuhaben. Candela Capitán setzt die Sprache der Performance vor allem ein, um die Grenzen des Tanzes und die Präsenz des Körpers auf der Bühne zu erforschen, die von weiblicher Sexualität und Voyeurismus überschritten werden. Ihre Arbeiten entstehen in verschiedenen Medien (Live-Aktionen, Installationen oder im audiovisuellen Bereich) und Trägern (durch virtuelle oder Live-Plattformen) mit dem Ziel, neue Verbindungswege mit dem Publikum zu finden und die künstlerischen Disziplinen und ihre Möglichkeiten zu hinterfragen.

Candela Capitán lebt und arbeitet in Barcelona. Sie begann ihre künstlerische Projektarbeit 2018 mit Mantis, Three Hours of Coffin, gefolgt von u. a. The Death at the Club, Sexual Saturation Device und Tomorrow People. Ihre Arbeiten wurden u. a. beim Festival Loom Barcelona, TEA Museo de arte contemporáneo de Tenerife, in Stockholm, Zagreb und Zürich gezeigt. Im Juni 2022 wurde ihre Kreation für TANZ_KASSEL 1 9 7 6 2 – solos y conectados | lonesome and connected | einsam gebunden im Theater im Fridericianum in Kassel uraufgeführt und ist in der Spielzeit 2022/23 neben Vorstellungen am Staatstheater Kassel auch auf Gastspielen am tanzhaus nrw und am Teatro Central Sevilla in Spanien zu erleben. 

Auch interessant

Kommentare