„Die Netflix-Revolution“: So verändern Streamingdienste die Gesellschaft

Welchen Einfluss haben Netflix und Co. auf die TV-Welt und die Gesellschaft? Oliver Schütte hat ein Buch über die Umwälzungen durch Streamingdienste geschrieben.
Das Fernsehen wird einst das für uns sein, was heute das Faxgerät ist. Mit dieser Aussage zitiert Autor Oliver Schütte den Netflix-Gründer auf seinem Buch „Die Netflix-Revolution“. Wie verändert Streaming unser Leben?
Sie benutzen den Begriff Revolution für die Umwälzungen in der Fernsehwelt. Ist das angemessen?
Ja, es ist eine Große. Wir gehen weg von Angeboten, bei denen vorgegeben ist, wo, wann und mit welchem Gerät wir etwas anschauen. Damit liegt mehr Gewicht auf dem Suchen als auf dem Gucken. Selbst die ARD hat angekündigt, dass sie ihre Mediathek vom regulären Programm entkoppeln will.
Werden denn wenigstens die „Tagesschau“ und der „Tatort“ bleiben?
Vermutlich schon. Es ist wie bei der Musik: Man streamt sie, aber als Geschenk oder für besondere Anlässe bleiben CDs und Platten. So wird das Fernsehen für die Events bleiben, etwa für Fußball, und das Kino für besondere Gemeinschaftserlebnisse.
Welche Inhalte sind bei nicht-linearen Fernsehanbietern erfolgreich?
Das Alleinstellungsmerkmal von Anbietern wie Netflix und Amazon sind komplexe Serien und Figuren, die es so im klassischen Fernsehen nicht gab. Es begann beim Sender HBO mit den „Sopranos“ und dem Gangsterboss Tony Soprano – es war neu, dass eine Fernsehfigur derartig ambivalent war. Die Dienste werden sich unterschiedlich positionieren müssen, um sich voneinander abzuheben. Anbieter wie Disney werden hingegen mehr auf Mainstream setzen.
Heute zeigen ja alle alles.
Das wird sich ändern, wenn das Lizenzgeschäft härter wird und es einen Konkurrenzkampf geben wird, wer was zeigen darf. Zusätzlich muss jeder Anbieter attraktive eigene Stoffe haben.
Wer soll denn das alles abonnieren?
Das ist die Frage. In den USA geben Nutzer etwa 100 Dollar für solche TV-Dienste aus, in Deutschland liegt das Budget lediglich bei 30 Euro, davon sind schon 18 Euro für den Rundfunkbeitrag weg.
Und wie soll man die tollen Inhalte finden?
Anbieter arbeiten an einer Art Meta-Suchmaschine. Das Ziel ist, über alle Plattformen hinweg suchen zu können.
Nun werden Netflix und Co. zwar für Qualität gelobt, aber es sind ja nicht alle Angebote top. Wie viele müssen es sein, damit ein Dienst attraktiv wird?
Hier merkt man noch das alte Paradigma: Mehrere Sender konkurrieren um einen Sendeplatz. Jeder will viele Leute erreichen und macht Angebote, die massenkompatibel sind. Streamingdienste müssen nicht alle erreichen. Die brauchen zum Beispiel ein Spitzenangebot für Horrorfans, sie profilieren sich durch das Besondere. Das ist der Paradigmenwechsel.
Gute Qualität findet man auch in den Mediatheken.
Ja, aber deren Aufgabe ist immer noch, den Massengeschmack zu bedienen. Netflix kann da viel spezieller sein.
Was folgt daraus?
Mediatheken müssen sich klar machen, dass sie nur als Gesamtpaket die Massen ansprechen müssen, nicht mit ihren Einzelprodukten. Da können auch sie speziell sein.
Wie präsentieren die Anbieter das Besondere?
Netflix hat das Ziel, dass Kunden nicht scrollen müssen, sondern direkt auf der Titelseite fündig werden. Dazu wird jedem Kunden eine andere Vorschlagsliste gemacht. Und es geht noch weiter: Selbst wenn zwei Leute die gleiche Serie lieben, bekommen sie verschiedene Titelbilder zu sehen – je nach ihren sonstigen Vorlieben.
Dann landen wir ja noch mehr in der Filterblase unserer Vorlieben.
Das ist eine der großen Gefahren. Denn das, was wir angeboten bekommen, halten wir für die Wahrheit. Es verschließt uns für andere Haltungen, Meinungen, Erfahrungen. Das kann zu einer Zerreißprobe für die Gesellschaft werden.
Was sind die nächsten Entwicklungen?
Künstliche Intelligenz und damit eine noch genauere Steuerung, was uns allabendlich empfohlen wird. Ein Szenario wäre, dass eine künstliche Intelligenz uns durch den Tag begleitet – Alexa, Smartwatch –, unsere Aktivitäten und Stimmung registriert und uns gezielt die Sendung dazu vorschlägt. Oder ein Freund empfiehlt uns per Mail eine Serie, wir reagieren positiv, kriegen prompt vom Streamingdienst den Vorschlag auf die Smartwatch, bestätigen und wenn wir nach Hause kommen, läuft der Film schon. Der Algorithmus wird zur Bequemlichkeitsmaschine. Eine gruselige Vision.
Autor Oliver Schütte lebt in Berlin und San Francisco
Oliver Schütte (59) aus Göttingen, lebt in Berlin und San Francisco. Nach dem Studium der Film- und Theaterwissenschaften arbeitet er als Autor für Film und Fernsehen, Filmhochschul-Dozent, Filmproduzent und Verfasser mehrerer Bücher.
Infos zum Buch: Oliver Schütte: „Die Netflix-Revolution - Wie Streaming unser Leben verändert“, Midas, 224 S., 24,90 Euro.
Laut einer Studie hat ein anderer Streamingdienst den Platzhirsch Netflix bereits in Sachen Qualität überholt.