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„Es ist unfassbar!“ Ortskräfte-Helfer macht Merkel schwerste Vorwürfe

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Von: Florian Naumann

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Deutschland wird nicht alle zu Evakuierenden aus Afghanistan ausfliegen können. Doch das Problem ist wohl noch sehr viel größer - ein Ortskräfte-Helfer zeigt sich fassungslos.

Berlin - Deutschland wird in der laufenden Evakuierungsmission nicht mehr alle auszufliegenden Menschen aus Afghanistan retten können. Das hat Außenminister Heiko Maas (SPD) am Dienstag bestätigt. Unterdessen hat der Bundeswehroffizier Marcus Grotian schwerste Vorwürfe an die Adresse der Bundesregierung erhoben. Der Vorsitzende des Patenschaftsnetzwerk für afghanische Ortskräfte der Bundeswehr sprach in einer Pressekonferenz von „unterlassener Hilfeleistung“. „Noch in diesen Minuten“ würden Menschen, die für Deutschland gearbeitet haben, am Flughafen abgelehnt.

Afghanistan: Ortskräfte-Helfer erheben schwerste Vorwürfe - „Menschen willentlich zurückgelassen“

„Wir sind überwältigt und verbittert in einem Maße, dass wir es nicht in Worte fassen können“, sagte Grotian bei einem teils emotionalen Auftritt in der Berliner Bundespressekonferenz. „Ich habe den Eindruck, wir haben hier Menschen bewusst und willentlich zurückgelassen“, erklärte er unter anderem. Festzumachen sei die Misere letztlich „am Bundeskanzleramt“.

Er warf der Bundesregierung vor, die Zahl der zu evakuierenden Menschen absichtlich kleinzurechnen*. Zu den „bürokratischen Tricks“, die Grotian besonders kritisierte, zählt die „Zwei-Jahres-Frist“ für Ortskräfte: Die Ausreiseberechtigung war zunächst nur solchen Ortskräften* erteilt worden, die in den vorangegangenen zwei Jahren für deutsche Stellen in Afghanistan* gearbeitet haben. Im Juni wurde die Regelung gelockert - die Befristung wurde gestrichen. Allerdings nur für Ortskräfte, die für die Bundeswehr oder andere deutsche Sicherheitsbehörden gearbeitet haben.

Deutsche Ortskräfte in Afghanistan werden offenbar am Flughafen abgewiesen - Grotian nennt Zahlen

Damit seien aber jene Ortskräfte ignoriert worden, die für andere Stellen gearbeitet haben, monierte Grotian. „Vor einer halben Stunde, wurde einer Frau, die noch 2017 für das GIZ gearbeitet hat, der Zugang zum Flughafen verwehrt“, berichtete er. Die Frau sei „bis zu deutschen Soldaten“ gelangt und dort abgewiesen worden, weil sie nicht auf einer Ausreiseliste verzeichnet gewesen sei. „Ortskräfte wurden abgelehnt, weil sie zur falschen Zeit fürs falsche Ministerium gearbeitet haben“, beklagte Grotian, der auch von zahlreichen bürokratischen Hürden bei der Erlangung von Visa berichtete. Seine Forderung sei, „alle, die für uns beschäftigt waren, nicht zurückzuweisen, sondern mitzunehmen“.

Andere Länder versuchten, alle Ortskräfte in Sicherheit zu bringen, erklärte der Vorsitzende des Patenschaftsnetzwerks, „wir evakuieren die, die man ausgewählt hat, das finden wir verwerflich“, betonte Grotian. „Warum gibt es überhaupt eine zeitliche Begrenzung?“, fragte er. „Es ist unfassbar!“ Viele Afghanistan-Veteranen würden derzeit „retraumatisiert“, erklärte Grotian. „Wir sind moralisch verletzt von der eigenen Regierung“, sagte er. „Und das ist beschämend.“

Grotian nannte auch Zahlen der zu evakuierenden Menschen. Die Bundesregierung sprach wiederholt von 2.500 Ortskräften - das sei „mitnichten richtig“. „Aus unserer Sicht sind es circa 8000 Ortskräfte und Familienangehörigen“, erklärte er. Dabei handele es sich „nur um die Kernfamilie*. Bruder, Schwester, Mutter sind nicht erlaubt - was wir natürlich auch kritisieren“. Bekannt sei etwa ein Fall, in dem ein Bruder einer Ortskraft von den Taliban exekutiert worden sei. Als „Hohn“ empfinde er auch den Umgang mit Subunternehmern, die mit den Deutschen in Afghanistan zusammenarbeiteten. Sie seien in der Auflistung noch gar nicht enthalten.

Angela Merkel in der Kritik: Grotian fühlt sich ignoriert - Menschen wegen Äußerungen in Sackgasse?

Insbesondere Kanzlerin Angela Merkel* (CDU) nahm Grotian in die Kritik. „Ich habe der Kanzlerin mehrfach Hilfe angeboten, das ist ignoriert worden“, sagte er. Bereits im Juni und Juli habe man sich in Briefen an die Regierung gewandt. „Vorgebrachte Vorschläge wurden ignoriert, oder zumindest mit Nichtbeachtung gestraft.“

Der Soldat warf Merkel und Ministern indirekt auch Selbstgefälligkeit vor. „Wenn ich ein Stück Papier in meinem Büro mitnehme, dann werde ich wegen Diebstahl entlassen. Das ist eine Straftat. Hier wurden Tausende Menschen, darunter auch deutsche Staatsbürger, in eine Situation gebracht, wo Leib und Leben gefährdet ist und ich bin baff-erstaunt, dass das dazu führt, dass sich alle erzählen wie schön die eigenen Prozesse waren“, sagte Grotian: „Ich sehe das anders!“

Derzeit gerieten durch die Kommunikation der Bundesregierung sogar weitere Menschenleben in Gefahr, erklärte der Bundeswehrhauptmann unter Verweis auf Aussagen Merkels. Es werde der Eindruck erweckt, Ortskräfte hätten eine Chance, gerettet zu werden, indem sie sich zum Flughafen drängten. Man nehme Menschen damit die Chance, das Land vielleicht auf anderen Wegen zu verlassen. „Sie warten da bis zum Schluss, bis der letzte Flieger abgeflogen ist, weil Aussagen von Politikern sich nicht mit dem decken, was unsere Bürokratie hier macht. Deshalb halten wir die Ortskräfte da gefangen“, rügte Grotian. 

Afghanistan: Deutschland wird Menschen in Kabul zurücklassen - Maas bestätigt Scheitern

Maas räumte unterdessen ein, dass Deutschland seine Ziele bei der Evakuierungsmission in Afghanistan nicht vollständig erreichen wird. Man habe zwar mehr als 2.000 „Männer, Frauen und Kinder aus Afghanistan“ ausgeflogen und stehe mit 100 weiteren Familien in konkretem Kontakt, sagte Maas am Dienstagvormittag im TV-Sender Bild. Allerdings schließe sich das Zeitfenster für die Aktion: „Das wird nicht reichen, um all diejenigen, die wir ausfliegen wollen, in dieser Zeit aus dem Land zu bringen.“

Mit einer Entscheidung der USA über den Zeitpunkt für das Ende der Evakuierung rechnet Maas nach eigenen Angaben noch am heutigen Dienstag. Er gehe davon aus, dass die US-Amerikaner „ein, zwei Tage brauchen, um ausschließlich ihr eigenes Militär auszufliegen“, dadurch könne die Ausfliegeaktion vor der finalen Deadline enden - die Taliban hatten zuletzt auf ein Ende zum 31. August gepocht. Maas kündigte gemeinsame Überlegungen mit USA und Großbritannien über Alternativen an, etwa zivile Flüge aus Kabul. Bei der Koordinierung einer solchen Aktion wolle sich Deutschland beteiligen. Allerdings müsse man dafür „mit den Taliban reden“.

Laut Grotian sind ohnehin in den offiziellen Zahlen viele Ortskräfte „verlorengegangen“. Auch außerhalb Kabuls gebe es „immer noch Menschen, die leben“, betonte er in bitterem Tonfall. Der Soldat und Aktivist hob allerdings auch „überwältigende“ Unterstützung aus der Bevölkerung für die Anliegen der Ortskräfte hervor. (fn mit Material und AFP) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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