Fünf Jahre nach der Flüchtlingskrise: Politologe warnt vor Fehler - „Das schafft Probleme“

In der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 kamen über eine Million Asylsuchende nach Deutschland. Die Sympathie zu Beginn war groß - wie sieht es jetzt aus?
- Während der Flüchtlingskrise 2015/16 kamen 1,1 Millionen Asylsuchende nach Deutschland.
- Die Sympathie war groß, sie wurden unter anderem mit Plakaten begrüßt.
- Doch wie sieht es fünf Jahre später aus? Ein Politologe warnt vor einem Fehler beim Umgang mit Geflüchteten
Berlin - Das Elend in den Krisenregionen der Welt kennen die meisten Deutschen wohl nur vom Bildschirm. Vor fünf Jahren standen Hunderttausende Geflüchtete auf einmal vor der Tür. Die Sympathie war zu Beginn groß. Und heute?
Die Positionen stehen felsenfest - bei der „Refugees Welcome"-Fraktion ebenso wie bei den Gegnern der liberalen Asylpolitik. Fragt man die einen, zählen sie Beispiele auf von Syrerinnen, die ihr Abitur mit Bravour geschafft haben oder Irakern, die ein eigenes Geschäft eröffnet haben. Die anderen verweisen auf eine höhere Kriminalitätsrate der Zuwanderer und auf die vielen Flüchtlinge, die bis heute keinen Job haben.
1,1 Millionen Asylsuchende aufgenommen: Meinungsstreit und Ängste
In den Jahren 2015 und 2016 wurden mehr als 1,1 Millionen Asylsuchende aufgenommen. „Das Jahr 2015 hat eine Spaltungslinie in der deutschen Gesellschaft offen gelegt: auf der einen Seite jene, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren; auf der anderen Seite hat der Zuzug so vieler Menschen Fremdenfeindlichkeit hervorgerufen, rational nicht begründete Ängste“, sagt Politikwissenschaftler Herfried Münkler. „Der Sog zur politischen Mitte hin, den wir vorher gesehen haben, fand da ein Ende.“
Der fundamentale Meinungsstreit ist noch immer nicht überwunden. Das Bild ist nach Auskunft von Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen allerdings stabil: „Wir haben seit der Flüchtlingskrise relativ wenig Stimmungsveränderungen, von gelegentlichen Ausschlägen bei Ereignissen wie der Kölner Silvesternacht abgesehen. Auf die Frage, ob Deutschland die Zahl der angekommenen Flüchtlinge gut verkraften kann, stimmen 60 Prozent zu, 40 verneinen das.“
Asylpolitik in Deutschland: Verbitterung und tiefe Gräben
Die Verbitterung, mit der über die Asylpolitik gestritten wird, lässt sich mit den Auseinandersetzungen in der Corona*-Krise vergleichen. Auch hier erscheinen die Gräben oft unüberwindbar tief. Unvergessen die Bilder 2015: Flüchtlinge wurden am Münchner Hauptbahnhof mit Applaus und Willkommensplakaten begrüßt. Dass sich Deutschland, aus dem während der Nazi-Zeit so viele Menschen geflohen sind, großzügig zeigt, fanden viele angemessen und gut. Einige berauschten sich regelrecht am Lob, mit dem die deutsche „Willkommenskultur“ international gefeiert wurde.

Deutschland nimmt Flüchtlinge auf: Antragschaos und fehlende Schlafplätze
Allerdings herrschte in praktischen Fragen in den ersten Wochen teilweise Ernüchterung und Ratlosigkeit. Wie bewältigt man die Registrierung der vielen Asylsuchenden, wie ihre Unterbringung? Und was wird aus denen, die offensichtlich weder Bürgerkrieg noch politische Verfolgung, sondern der Wunsch auf ein Leben in bescheidenem Wohlstand in die Bundesrepublik trieb?
Die praktischen Probleme habe man in den Griff bekommen, auch dank des großen Engagements der Verantwortlichen in den Kommunen, bilanziert Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistags. Allerdings seien die langfristigen Herausforderungen noch keineswegs bewältigt. Nicht nur die hohe Zahl der Asylsuchenden habe Deutschland „an die Grenzen seiner Integrationsfähigkeit geführt“ - auch, dass viele der Flüchtlinge kamen, ohne dass sie sich
vorbereiten konnten. „Mangelnde Kenntnisse der deutschen Sprache, erhebliche kulturelle Unterschiede, das Fehlen oder die nicht gegebene Anerkennungsfähigkeit von Bildungsabschlüssen - alles Umstände, die die Integration hierzulande erschweren.“
Asylsuchende in Deutschland: Mammutaufgabe Integration
Ende 2019 waren in Deutschland 363.000 Menschen aus Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien sozialversicherungspflichtig beschäftigt, darunter 55.000 Auszubildende. Weitere 75.000 zählt die Bundesagentur für Arbeit unter den geringfügig Beschäftigten. Darunter sind allerdings auch Zuwanderer, die nicht als Flüchtlinge kamen, sondern
beispielsweise als Studenten, Ehegatten oder Erwerbsmigranten. Die Arbeitslosenquote für diese Länder lag im Mai nach vorläufigen Daten bei 39,8 Prozent - viel höher als in der Gesamtbevölkerung.
Hinzu kommt: Bei der Migration steht das Prinzip manchmal dem Pragmatismus im Weg. Erst im vergangenen Jahr hat die große Koalition ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz zustande gebracht. Insbesondere in CDU* und CSU* geht die Furcht um, allzu große Offenheit könne als Signal verstanden werden, dass jeder willkommen sei. Deshalb gibt es den Zugang zum Arbeitsmarkt für die meisten Migranten erst dann, wenn entschieden ist, dass sie bleiben dürfen.
Mammutaufgabe Integration: Politologe übt Kritik an Vorgehen
Politologe Münkler kritisiert das: „Man muss die Leute hier schnell in Jobs bringen, auch wenn sie noch nicht perfekt Deutsch sprechen und am Ende im Asylverfahren vielleicht abgelehnt werden. Die Menschen haben Schlimmes hinter sich, sind zum Teil Tausende Kilometer geflohen, und dann werden sie hier kaserniert und sitzen untätig herum. Das schafft Probleme.“ Das Land brauche doch Arbeitskräfte - und Geringqualifizierte könne man ja weiterbilden. „Wenn man Integration nicht aktiv angeht, dann hat man später Probleme, wie wir sie heute mit teils kriminellen libanesischen Clans haben.“
Eine weitere Messlatte für die Integration ist Kriminalität. Anhaltspunkte liefert das jährliche „Lagebild Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ des Bundeskriminalamts, in dem es um Asylbewerber, Flüchtlinge, Geduldete und sich unerlaubt im Land aufhaltende Nicht-EU-Bürger geht. Die Polizei stellt fest: Migranten aus Afghanistan, dem Irak und Syrien, die realistische bis sehr gute Chancen auf Schutz hierzulande haben, werden deutlich seltener kriminell als zum Beispiel Migranten aus den Maghreb-Staaten, von denen nur sehr wenige als Flüchtlinge anerkannt werden. Aus den Statistiken lässt sich auch ableiten, dass Zuwanderer bei Mord, Totschlag, schwerer Körperverletzung und Vergewaltigung überrepräsentiert sind - wie junge Männer insgesamt.
Flüchtlinge in Deutschland: Probleme bei Abschiebungen
Die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber ist und bleibt jedoch äußerst schwierig. Die Zuwanderung habe auch zu einer Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse beigetragen, wie der Landkreistag feststellte. Verbandspräsident Sager: „Die Auseinandersetzung um die Frage, ob und in welchem Umfang Schutzsuchende aufgenommen werden sollen, hat - auch angesichts offenkundiger Missbrauchsfälle und vor allem auch der Tatsache, dass eine große Zahl abgelehnter Schutzsuchender das Land nicht freiwillig verlässt und Abschiebungen häufig scheitern - im Lauf der Zeit an Schärfe gewonnen.“ Insgesamt müsse man sagen: „Das gesellschaftliche Klima hat darunter gelitten.“
Auf politischer Ebene könnte die Asylzuwanderung nach der nächsten Bundestagswahl zum schwierigsten Thema möglicher Koalitionsverhandlungen zwischen Union und Grünen werden. Zwar können die Grünen das von Innenminister Horst Seehofer (CSU) inzwischen immer wieder bemühte Konzept von „Humanität und Ordnung“ in der Migrationspolitik prinzipiell unterschreiben. Wie viel Humanität nötig und möglich ist, darüber gehen die Meinungen aber deutlich auseinander. Der Streit um die Aufnahme zusätzlicher Asylbewerber in Berlin und Thüringen aus überfüllten griechischen Lagern zeigt das gerade wieder. Kürzlich verschaffte sich NRW-Ministerpräsident Armin Laschet einen Eindruck vom Flüchtlingslager Moria.
Politologe: „Es ist legitim, wenn Deutschland die Zuwanderung begrenzt...“
Und wie viel Ordnung braucht es? Der Präsident des Landkreistags warnt: „In keinem Fall darf noch einmal der Eindruck entstehen, die Zuwanderung - auch und gerade die Fluchtzuwanderung - entziehe sich staatlicher Steuerung.“ Auch Politologe Münkler, ein Verteidiger der Politik des Jahres 2015, merkt an: „Es ist legitim, wenn Deutschland die Zuwanderung begrenzt, nachdem wir so viele Menschen aufgenommen haben, und uns um die kümmern, die nun hier sind.“ Seehofer, damals noch bayerischer Ministerpräsident, hatte die ungehinderte Einreise von Hunderttausenden Asylsuchenden - die mehrheitlich keine Ausweise bei sich trugen - 2016 als „Herrschaft des Unrechts“ bezeichnet. Mittlerweile versucht er, eine grundsätzliche Reform des europäischen Asylsystems voranzutreiben.
Seehofer will weg von dem Prinzip, dass Asylsuchende dort ihren Antrag auf Schutz stellen müssen, wo sie zuerst in die EU reisen und dann mit großem Aufwand dorthin zurückgeschickt werden, wenn sie weitergereist sind. Er plädiert für eine „Vorprüfung“ an den Außengrenzen der EU. Nur Asylsuchende, die eine Chance auf Asyl haben, sollen in Europa verteilt, alle anderen möglichst direkt abgeschoben werden. Doch das Vorhaben stockt, weil sich einige Staaten, in denen kaum Schutzsuchende ankommen, seit Jahren gegen einen neuen Verteilungsmechanismus wehren. Und dann kam auch noch Corona.
Video: Lage in griechischen Flüchtlingscamps weiter dramatisch
Asylbewerber, Fluchtmigranten oder Geflüchtete?
Wer wo steht, lässt sich oft schon an der Wahl der Begriffe ablesen, mit denen sie oder er die Menschen bezeichnet, um die es geht. Wer einen Baumwollbeutel mit der Aufschrift „Kein Mensch ist illegal“ oder „Seebrücke“ trägt, wird Ausländer, die Schutz beantragen, eher „Flüchtlinge“ oder „Geflüchtete“ nennen - unabhängig davon, ob der Grund für das Verlassen des Herkunftslands politische Verfolgung, Terror, ein bewaffneter Konflikt oder wirtschaftliche Perspektivlosigkeit war.
Die Experten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration sprechen dagegen nur von „Flüchtlingen“, wenn es um Menschen geht, deren Asylantrag erfolgreich war. Der zunehmend verbreitete Begriff „Geflüchtete“ sei „breiter, da er sich nicht allein auf die Rechtslage bezieht“, erklärt die Vorsitzende Petra Bendel. „Er ist historisch noch nicht so stark besetzt und schließt tendenziell alle Geflüchteten unabhängig vom Geschlecht ein.“ Politiker der AfD sprechen dagegen lieber von „illegaler Masseneinwanderung“ und „sogenannten Flüchtlingen“.
Gauland: AfD verdankt „Wiederaufstieg in erster Linie der Flüchtlingskrise“
Für die AfD*, die nach der Abspaltung des wirtschaftsliberalen Flügels um Parteimitgründer Bernd Lucke 2015 in der Krise steckte, war der große Andrang von Asylbewerbern im Herbst des gleichen Jahres taktisch gesehen ein „Geschenk“, wie ihr heutiger Ehrenvorsitzender Alexander Gauland Ende damals einräumte. Durch die Positionierung als Anti-Asyl-Partei konnte die AfD viele Anhänger gewinnen. Dem „Spiegel“ sagte Gauland damals: „Natürlich verdanken wir unseren
Wiederaufstieg in erster Linie der Flüchtlingskrise.“
Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen glaubt allerdings, dass CDU/CSU der AfD in den Folgejahren Rückenwind verschafft haben, auch wenn das wohl keine Absicht war. Der Meinungsforscher sagt: „Die Union hat im Bundestagswahlkampf 2017 dafür gesorgt, dass das Thema Migration wieder Fahrt aufnahm, wovon die AfD profitieren konnte.“
Das Leid der Geflüchteten, die im Mittelmeer ertrinken oder in Elendslagern hausen, berührt viele Deutsche heute weit weniger als noch vor einigen Jahren, stellt Jung fest. „Wenn man das Gefühl hat, ein Problem lässt sich nicht lösen, dann schaut man lieber weg.“ Hinzu komme eine Ambivalenz: „Wenn Menschen das Leid von Flüchtlingen sehen, wollen sie helfen. Sie haben aber auch Angst, dass die Zuwanderung zu Veränderungen führt. Man hilft gerne. Aber das ganze
Problem soll auch bitte verschwinden.“
Das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos (Griechenland) stand in der Nacht in Flammen und wurde fast vollständig zerstört. Was mit den obdachlosen Migranten passieren soll, ist unklar.* Nach dem Brand in Moria will Horst Seehofer während der EU-Ratspräsidentschaft die Probleme der Flüchtlings-Politik angehen. Die EU-Kommission derweil plant einen neuen Kurs in der Flüchtlings-Thematik.
An einer Autobahnraststätte bei Berlin sahen Reisenden plötzlich Hände, die aus einer LKW-Plane herauswinkten. Flüchtlinge riefen nach Hilfe und Wasser. (kam/dpa) Merkur.de ist Teil des bundesweiten Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerks.)