Corona und Flüchtlingskrise: Augenzeuge warnt - „Moria kurz davor, Massengrab zu werden“

Die Situation auf den griechischen Inseln ist bedrohlich. Zehntausende Menschen sind in Lebensgefahr. Eindringliche Worte eines Seenotretters machen nachdenklich.
- Die Flüchtlingskrise auf den griechischen Inseln* spitzt sich zu.
- Wegen des Coronavirus* leben zehntausende Menschen in großer Gefahr.
- Einen Wegweiser durch die Berichterstattung in der Corona-Krise sowie eine Karte aktueller Fallzahlen bietet Merkur.de*.
- Ein Seenotretter berichtet erschütternde Details von der türkisch-griechischen Grenze.
Update vom 9. September 2020: Das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos steht komplett in Flammen. Die Feuerwehr kämpft schon die ganze Nacht gegen das Feuer. Die Ursachen sind noch unklar.
Update vom 4. Juli 2020: Ein Seenotrettungsschiff, das auf dem Mittelmeer Menschen vor dem Ertrinken rettet, hat den Notstand ausgerufen. Bisher kann das Schiff keinen sicheren Hafen ansteuern.
Corona und Flüchtlingskrise: Augenzeuge warnt - „Moria kurz davor, Massengrab zu werden“
Erstmeldung vom 18. April 2020:
München - Dariush Beigui hat schon viel erlebt. Als Seenotretter war er mit der „Iuventa“ und der „Sea-Watch 3“ im Mittelmeer, aktuell ankert er mit der „Mare Liberum“ vor der griechischen Insel Lesbos.
Flüchtlingskrise in Griechenland: Seenotretter berichtet von furchtbaren Zuständen
Was der deutsche Flüchtlingshelfer von den Zuständen zu berichten hat, lässt einem teilweise das Blut in den Adern stocken. „Ich bin hoffnungslos“, berichtet er im Gespräch mit Jan Böhmermann und Olli Schulz (den Podcast „Fest & Flauschig“ finden Sie hier). Trotzdem versucht er, die Hörer aufzurütteln.
Die griechischen Inseln sind ein Hotspot für Flüchtende, erläutert Beigui, Lesbos ist nur sieben Kilometer von der türkischen Küste entfernt. Eine Distanz, die manche in ihrer Verzweiflung schon schwimmend zurückgelegt haben sollen.
Lesbos: Geflüchtete waren willkommen - doch mittlerweile ist die Stimmung gekippt
Die Menschen hier sind also schon daran gewöhnt, Geflüchtete aufzunehmen und profitieren teilweise sogar davon. Dennoch hat sich das Stimmungsbild vor etwa einem halben Jahr gewandelt. Eine gefährliche Feindseligkeit habe sich auf den Inseln entwickelt, erläutert der deutsche Seenotretter. Es gehe so weit, dass eine Gruppe Menschen sogar das Hilfsboot „Mare Liberum“ im Hafen mit Benzin übergossen und anzünden wollte.
„Da muss ich aber etwas in die Bresche springen, für Lesbos“, mahnt der Menschenrechtspreisträger, das nicht unreflektiert stehenzulassen, obwohl sich die Wut der Bürger auch gegen ihn selbst richtet. „Hier wohnen 60 Tausend Menschen auf der Insel und hier sind fast 25.000 Geflüchtete.“
Flüchtlingskrise: Seenotretter wird von Gedankenspiel angst und bange - „Das will ich mir gar nicht ausmalen“
„Wenn ich mir vorstelle, was in Deutschland los wäre, wenn da 40 Millionen Geflüchtete wären...“, versagt ihm für einen Moment die Stimme, „Oh Gott, das will ich mir gar nicht ausmalen, was mit denen angestellt werden würde.“
Griechenland/Türkei: Corona-Pandemie verschärft die Lage - Geflüchtete in großer Gefahr
Die Corona-Pandemie* verschärft die Lage vor Ort nun ungemein. Während die Helfer frustriert sind, weil sie ihrer Aufgabe nicht nachgehen können, leben die Geflüchteten momentan in großer Gefahr.
In völlig überfüllten Lagern leben zehntausende Menschen auf engstem Raum. Viele sind gesundheitlich ohnehin angeschlagen oder instabil. Fast alle, die dort leben, gehören auch zur Risikogruppe, schätzt Beigui.
Vor allem im größten Lager, nahe Moria, sei die Situation prekär. Es wurde einst für 2500 Menschen geplant, mittlerweile werden dort unfassbare 20.000 zusammengepfercht. Die Hilfesuchenden fühlen sich wie Tiere, weil die EU sie wie solche behandle, berichtet der ehemalige Seenotretter und hält Deutschland den Spiegel vor.
„Es ist völlig überfüllt. Social Distancing gibt es hier nicht“, erklärt Beigui, „stellt euch vor, in dem Raum, in dem ihr seid, kommen noch fünfzig Menschen hinzu.“
Flüchtlingskrise auf Lesbos: Kinder trifft es hart - Studie zeigt erschreckendes Ergebnis
Er berichtet von einer Studie der Aktion „Ärzte ohne Grenzen“, die sehr traurige Zahlen zutage brachte. Jedes vierte Kind zwischen sechs und 16 Jahren, das in oder um Moria leben muss, versuchte demnach bereits sich selbst umzubringen oder dachte darüber nach.
Deutschlands Hilfe in der Krise ein Hohn: „Man fängt erst an zu Lachen, dann wird man grimmig“
Dass sich Deutschland* nun dazu bereit erklärte, 50 Kinder aufzunehmen, ist für Beigui ein Hohn. „Das auch noch als großzügig oder menschlich darzustellen, finde ich besonders schlimm“, schimpft er, „wir besuchen ab und an Freunde oder Freundinnen im Lager. Als ich ihnen erzählt habe, dass Deutschland jetzt 50 aufnimmt, oder Luxemburg zwölf, auch die haben dann erstmal gelacht. Man fängt erst an zu Lachen, dann wird man grimmig. Dann ballt sich die Hand zur Faust.“
Coronavirus überschattet vieles: „Behörden haben zugeguckt, wie Menschen ertrinken“
Während die Corona-Krise in Europa* alles andere auszublenden scheint, gerieten im Mittelmeer fünf Schiffe in Seenot, berichtet Beigui weiter, eines kenterte sogar. „Europäische Behörden haben zugeguckt, wie Menschen ertrinken. Direkt vor unseren Toren, also wirklich schon in greifbarer Nähe“, zeigt er sich fassungslos, „Corona ist halt alles dominierend. Ich werde von Tag zu Tag hoffnungsloser, muss ich sagen.“
Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge: „Ich halte immer weniger von Europa“
Er spricht auch von illegalen Pullbacks. Damit bezeichnet man das Zurückschleppen von Flüchtlingsbooten, die das rettende Ufer schon beinahe erreicht hätten. Nicht nur von türkischer Seite seien derlei Menschenrechtsverletzungen zu beobachten. „Die griechische Marine und Frontex benehmen sich keinen Deut besser“, muss der Beobachter einräumen, „ich halte immer weniger von Europa“.
Zustände lassen Flüchtlingshelfer verzweifeln: Moria wohl kurz davor, ein Massengrab zu werden
Die Zustände brächten ihn mittlerweile zum Verzweifeln, er wisse langsam auch nicht mehr, was man machen, wie man helfen könne. Moria sei kurz davor, ein Massengrab zu werden, lautet die eindringliche Mahnung.
Warum es möglich war, Spargelstecher schnell und unkompliziert einzufliegen, während die Menschen auf den griechischen Inseln aber immer noch leiden müssen, ist Dariush Beiguis rhetorische Frage.
In Deutschland ist eine 101-Jährige während der Corona-Krise aus einer Seniorenresidenz getürmt, um ihrer Tochter zum Geburtstag zu gratulieren - dabei nutzte sie die Polizei als Fluchthelfer.
Auf der Insel Lesbos wurde jetzt ein neues provisorisches Lager errichtet, doch viele Flüchtlinge fürchten sich davor, eingesperrt zu werden.
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