Hartz 4: Arbeitsagentur streicht scharfe Sanktionen auch für Bezieher unter 25

Die Grünen wollen Hartz-4 reformieren. In einem Positionspapier fordert die Bundestagsfraktion vor allem die Kinder der Erwerbslosen zu begünstigen.
- Das Bundesverfassungsgericht hat über Hartz-4-Sanktionen entschieden.
- Bundesverfassungsgericht: Hartz-4-Sanktionen sind grundsätzlich zulässig.
- Aber: Sanktionen von mehr als 30 Prozent sind verfassungswidrig, sagt das Bundesverfassungsgericht.
- Die Regelung gilt ab sofort.
- Sozialverbände, Gewerkschaften und die Partei Die Linke fordern ein Abschaffen der Hartz-4-Sanktionen.
- Die Jusos wollen beim SPD-Parteitag über Hartz-4-Sanktionen abstimmen lassen.
Update, 14.11.2019, 10.00 Uhr: Die Bundesagentur für Arbeit hat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz-4-Sanktionen auch die Sanktionen gegen Betroffene unter 25 Jahren entschärft. „Wir verschicken derzeit keine Sanktionsbescheide“, sagte Arbeitsagentur-Chef Detlef Scheele den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Den Jobcentern sei mitgeteilt worden, dass die vom Gericht angemahnte Änderung der Sanktionspraxis auch für junge Arbeitslose gelte.
Bei Arbeitslosen, die aktuell mit Abzügen von 60 oder 100 Prozent sanktioniert wären, würden die Sanktionen dem Karlsruher Urteil entsprechend auf 30 Prozent reduziert. Scheele kündigte eine rechtlich verbindliche Übergangslösung bis Ende November an. Im nächsten Jahr werde eine gesetzliche Neuregelung der Sanktionspraxis folgen.
Am Nachmittag debattiert der Bundestag über einen gemeinsamen Antrag von Grünen und Linken, der eine Abschaffung der Hartz-4-Sanktionen fordert. Eine Vorlage der FDP, die auf großzügigere Zuverdienstregeln abzielt, soll ebenfalls beraten werden.
Grüne fordern Smartphones und Laptops für Kinder von Hartz-4-Empfängern
Update, 8.11.2019, 9.30 Uhr: Die Bundestagsfraktion der Grünen fordert in einem Positionspapier, dass Kinder von Hartz-4-Empfängern über Smartphones und Laptops verfügen können. Das Papier mit dem Titel „Digital Natives? Aufwachsen in einer vernetzten Welt“ liegt der Frankfurter Rundschau vor*.
Großen Handlungsbedarf sehen die Grünen außerdem bei der Digitalisierung von Schulen. Dort mangele es sowohl an IT-Fachkräften als auch an Geräten und Netzwerken. Lehrerinnen und Lehrer bräuchten „umfassende Fortbildungen“. Das gelte auch auch für die Eltern.
Die Grünen wollen das Papier nach Informationen der Frankfurter Rundschau auf einer Fachtagung der Bundestagsfraktion am heutigen Freitag vorstellen.
Hartz-4: Erwerbslosenvereine fordern Ende der Sanktionen
Update vom 7.11.2019, 11.05 Uhr: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz-4-Sanktionen muss die Bundesregierung Hartz 4 schnellstmöglich reformieren, schreibt Joachim Rock in seinem Gastbeitrag zum Hartz-4-Urteil* für die FR. Rock ist Abteilungsleiter im Deutschen Paritätischen Gesamtverband und war in der mündlichen Verhandlung zum Verfahren als Sachverständiger beteiligt.
Update von 15.45 Uhr: Erwerbslosen-Organisationen in Deutschland sehen beim Thema Hartz-4-Sanktionen auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts weiteren Handlungsbedarf. „Das Urteil hätte weiter gehen müssen“, sagte Harald Thomé vom Erwerbslosen-Verein Tacheles in Wuppertal im WDR-„Morgenecho“. Das Erwerbslosenforum Deutschland (Bonn) erklärte, Sanktionen seien den Erfahrungen nach grundsätzlich unwirksam. Beide Organisationen forderten das Arbeitsministerium und die Bundesagentur für Arbeit auf, die Entscheidung des Gerichts auch für Hartz-4-Empfänger unter 25 Jahren anzuwenden. In dieser Altersgruppe müssen Betroffene nach geltender Rechtslage mit besonders harten Sanktionen rechnen.
Statt Sanktionen brauche es mehr positive Motivation, forderte Thomé: „Bisher ist es so, dass die Leistungsbeziehenden ihren Sachbearbeitern gegenüberstehen und sie wissen einfach, dieser Mensch kann sie ins Elend treten.“ Das schaffe keine Basis für eine Zusammenarbeit. Wenn die Leistungsbeziehenden stattdessen die Hand gereicht bekämen und nach individuellen Bedürfnissen und sinnvollen Unterstützunsgmöglichkeiten gefragt würden, „dann sähe die Welt ganz anders aus“, sagte der Experte für Arbeitslosen- und Sozialhilferecht.
Hartz 4: Linke im Bundestag fordert „Arbeitslosengeld Plus“
Update von 11.07 Uhr: Die Linke im Bundestag fordert ein „Arbeitslosengeld Plus“. Die neue Leistung soll nach dem Bezug des Arbeitslosengelds fließen, wie aus einem Antrag der Linken hervorgeht, der der dpa vorliegt. „So schaffen wir soziale Sicherheit und ziehen dem Disziplinierungsinstrument Hartz 4 die Zähne“, so die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Susanne Ferschl. Anders als bei Hartz 4 sollen Betroffene mit dem „Arbeitslosengeld Plus“ zunächst weiter eine am Lohn orientierte Leistung erhalten. Die Höhe soll bei 58 Prozent des vorigen Lohns liegen.
Die Bezugsdauer solle der Dauer des vorherigen Bezugs von Arbeitslosengeld entsprechen. Arbeitslose, die mindestens 30 Jahre in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, sollen nach den Linken-Vorstellungen einen unbefristeten Anspruch auf „Arbeitslosengeld Plus“ erhalten. Die Arbeitslosenversicherung, wie sie die Linke wolle, zwinge Beschäftigte nicht in Leiharbeit oder in den Niedriglohnsektor. Durch die Beitragsfinanzierung des „Arbeitslosengelds Plus“ würden zugleich die Arbeitgeber an den Kosten beteiligt und die Ersparnisse der Beschäftigten beschützt.
Kevin Kühnert will SPD-Parteitag über Hartz-4-Sanktionen abstimmen lassen
Update von 9.25 Uhr: Juso-Chef Kevin Kühnert will auf dem SPD-Parteitag im Dezember über eine Abschaffung aller Hartz-4-Sanktionen abstimmen lassen. „Wir Jusos werden dann beantragen, dass die SPD künftig komplett auf Sanktionen verzichtet und stattdessen Förderung, Ermutigung und den Rechtsanspruch auf Qualifizierung und Weiterbildung in den Mittelpunkt stellt“, sagte Kühnert der „Rheinischen Post“.

Die Union lehnt derweil die komplette Abschaffung der Hartz-4-Sanktionen ab. „Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen im Bereich des Arbeitslosengelds II insgesamt nicht in Frage stellt“, sagte Unionsfraktionsvize Hermann Gröhe der „Rheinischen Post“. Die Koalition werde genau prüfen müssen, welcher gesetzgeberische Handlungsbedarf durch das Urteil ausgelöst werde. Im Vordergrund müssten aber weitere Anreize zur Arbeitsaufnahme stehen.
Update vom 6.11.2019, 9.10 Uhr: Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz-4-Sanktionen fordert Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, auch die Aufhebung für unter 25-Jährige. „Auch wenn das gestrige Urteil nur die über 25 Jährigen betroffen hat, ist doch jedem klar, dass Respekt und Menschenwürde auch für den Umgang mit jungen Menschen gelten muss“, sagt die Grünen-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur. Der Staat dürfe diese Menschen nicht in Existenznöte stürzen. „Union und SPD sollten nicht darauf warten, bis ihnen erneut ein Gericht vorschreibt zu handeln und die sozialen Grundrechte zu respektieren.“
Arbeitsagentur-Chef Scheele: Mitwirkungspflichten bei Hartz 4 verfassungskonform
Update von 13.50 Uhr: „Wenn Leistungskürzungen dazu führen, dass sich Menschen kein Essen mehr kaufen können oder obdachlos werden, ist dies ein Verstoß gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum“, sagt Caritas-Präsident Peter Neher zum Urteil zu Hartz-4-Sanktionen. Das staatlich zugesicherte Existenzminimum dürfe nicht vollständig gekürzt werden. Das Urteil des Gerichts macht deutlich, dass eine Minderung um mehr als 30 Prozent mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist.
Update von 13.47 Uhr: Aus Sicht von Arbeitsagentur-Chef Scheele wurde der Kern der Hartz-4-Sanktionen von den Verfassungsrichtern nicht angegriffen. Die Minderungen um 60 Prozent und 100 Prozent seien zwar nicht verfassungskonform, „aber das Thema der Mitwirkungspflichten ist verfassungskonform und das Prinzip des „Förderns und Forderns“ auch“, sagte Scheele. Es gehe um die Verhältnismäßigkeit. „Uns geht es darum, die Menschen ordentlich zu behandeln und sie in Arbeit zu bringen. Das ist ja auch von keinem hier angezweifelt worden.“
Update von 13.45 Uhr: Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, begrüßt die Entscheidung der Verfassungsrichter zu den Hatz-4-Sanktionen grundsätzlich und will schnell über die praktischen Folgen sprechen. „Erstmal ist es ein Urteil, das der Lebenswirklichkeit von Betroffenen entspricht“, so Scheele in Karlsruhe. „Ich habe ja immer gesagt, 100 Prozent oder Kürzungen beim Wohnen brauchen wir nicht und wollen wir auch nicht anwenden.“
Nun müsse geprüft werden, was mit noch nicht bestandskräftigen Bescheiden, die Minderungen von mehr als 30 Prozent vorsehen, passieren solle. „Aber da werden wir uns jetzt mit dem Bundesarbeitsministerium und der Bundesregierung zusammensetzen und mit den Ländern, wie wir damit umgehen.“
Linke fordert Abschaffung der Sanktionen bei Hartz 4
Update von 13.43 Uhr: Neben den Sozialverbänden und Gewerkschaften fordert auch die Linke eine baldige Abschaffung der Sanktionen bei Hartz 4. „Jetzt gilt es erst recht dafür zu sorgen, dass der Bundestag die Sanktionen abschafft“, erklärte Parteichefin Katja Kipping. „Denn Regelsätze, die zum Leben reichen und ein sicheres Existenzminimum garantieren, sind zuallererst die Aufgabe der Politik und nicht der Gerichte.“
Update von 13.12 Uhr: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-4-Sanktionen schnell umsetzen. Einige Änderungen seien unmittelbar notwendig, darüber werde es noch im Laufe des Tages Gespräche mit der Bundesagentur für Arbeit und den Bundesländern geben, so der SPD-Politiker. „Wir werden in der Koalition miteinander in Ruhe in Auswertung des Urteils besprechen, was das an gesetzgeberischer Weiterentwicklung bedeutet.“
Heil sagte, er gehe davon aus, dass das Urteil auch auf die besonders scharfen Sanktionen für junge Arbeitslose unter 25 Jahren Auswirkungen haben werde. Die Richter hätten die komplette Streichung der Leistungen dem Grunde nach verworfen. Er habe es auch immer politisch richtig gefunden, dass die Kosten der Unterkunft nicht mehr sanktioniert werden, die existenzielle Verunsicherung sei unverhältnismäßig. „Und das gilt, glaube ich, für alle Hilfebedürftigen in der Grundsicherung.“
Das Ministerium will auch auswerten, was das Urteil für die Sanktionierung von Meldeversäumnissen bedeutet. Hier entfallen zwar nur zehn Prozent der Leistungen, bisher aber auch starr für drei Monate. Außerdem kündigte Heil weitere Forschung zur Wirkung von Hartz-4-Sanktionen an.
Gewerkschaften und Sozialverbände wollen Abschaffung von Hartz-4-Sanktionen
Update von 13.07 Uhr: Gewerkschaften und Sozialverbände dringen nach dem Urteil zu Sanktionen bei Hartz 4 auf eine Abschaffung der Sanktionen. In einer gemeinsamen Erklärung fordern Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), Diakonie Deutschland und Paritätischer Wohlfahrtsverband eine Aufhebung der bestehenden Sanktionsregelungen im Hartz-4-System und die Einführung eines „menschenwürdigen Systems der Förderung“.
„Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind immer nur verfassungsrechtliche Grenzen, über die der Gesetzgeber auch hinausgehen kann“, so DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. „Denn nicht alles, was unsere Verfassung vielleicht gerade noch so zulässt, ist auch im Interesse von Arbeitssuchenden und Beschäftigten.“
Update von 13.05 Uhr: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bezeichnet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz-4-Sanktionen als „sehr weise“ und „sehr ausgewogen“. Es biete auch eine „Riesenchance“, den gesellschaftlichen Konflikt um die Arbeitsmarktreformen zu befrieden, sagte Heil nach der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Es bestehe nun Rechtssicherheit. Der Gesetzgeber habe den Auftrag, die Grundsicherung weiter zu entwickeln.
Der Arbeitsminister zeigte sich überzeugt, dass das Urteil die Bedeutung des Sozialstaats stärken werde. Durch das Urteil sei klar, dass Mitwirkungspflichten verlangt werden könnten, die aber verhältnismäßig sein müssten.
Bundesverfassungsgericht entschied einstimmig über Hartz-4-Sanktionen
Update von 12.20 Uhr: Die Verfassungsrichter haben den Regierenden eine krachende Lektion in Menschenwürde erteilt, schreibt FR-Autor Stephan Hebel in seinem Kommentar zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz-4-Sanktionen*.
Update von 10.55 Uhr: Die Entscheidung der Richter war einstimmig.
Update von 10.53 Uhr: Um 30 Prozent dürfen die Jobcenter Hartz 4 weiter kürzen - allerdings können die Jobcenter aber ab sofort je nach Einzelfall darauf verzichten. Außerdem darf die Kürzung nicht volle drei Monate aufrechterhalten werden, wenn der Betroffene sich einsichtig zeigt. Der Gesetzgeber muss die Vorschriften überarbeiten.
Update von 10.29 Uhr: Leistungsminderungen bis 30 Prozent des Regelbedarfs wurden vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet. Mit dem Grundgesetz unvereinbar seien Sanktionen jedoch, wenn der „Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird“.
Der Kommentar zum Urteil: Eine krachende Lektion in Menschenwürde für die Politik*
Hartz 4 darf weiter gekürzt werden - aber nicht mehr so stark
Update von 10.22 Uhr: In der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts heißt es: Der Gesetzgeber kann erwerbsfähigen Hartz-4-Empfängern „zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht“. Allerdings gelten hierfür laut BVerfG „strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit“, der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers sei in diesem Fall beschränkt.
Update von 10.20 Uhr: Im Grunde sagt das Bundesverfassungsgericht, dass man Bedingungen an die Empfänger von Hartz 4 stellen darf - aber nicht alle. Sanktionen von mehr als 30 Prozent sind demnach verfassungswidrig. Bis das Urteil in Gesetzesform gegossen ist, soll es nur noch Sanktionen in Höhe von maximal 30 Prozent geben. Insgesamt habe das Gericht sehr häufig vom Einzelfall gesprochen, erklärt Prof. Dr. Astrid Wallrabenstein auf Phoenix.
Bundesverfassungsgericht: Hartz-4-Sanktionen sind teilweise verfassungswidrig
Update von 10.16 Uhr: Stephan Harbarth, Präsident des ersten Senats, erklärt in der Urteilsverkündung, dass Hartz-4-Sanktionen grundsätzlich aber möglich sind.
Update vom 5.11.2019, 10.10 Uhr: Sind Sanktionen für Hartz-4-Empfänger verfassungsgemäß? Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sagt dazu: Jein. Hartz-4-Sanktionen sind teils verfassungswidrig. (Az. 1 BvL 7/16)
Hartz-4-Sanktionen sind teilweise verfassungswidrig
Bundesverfassungsgericht entscheidet über Hartz-4-Sanktionen
Erstmeldung vom 4.11.2019: Wer Hartz 4 bezieht, dem drohen unter bestimmten Voraussetzungen empfindliche Sanktionen. Aber in welchem Umfang sind diese Sanktionen überhaupt verfassungsgemäß? Dürfen Jobcenter Hartz-4-Empfängern das Arbeitslosengeld II pauschal um 30, 60 oder gar 100 Prozent kürzen, nachdem diese mehrmals ihre Pflichten verletzt haben? Darüber entscheidet das Bundesverfassungsgericht am morgigen Dienstag (5. November 2019).
In dem konkreten Fall geht es um einen Kläger, der ein Arbeitsangebot und auch eine Probearbeit abgelehnt hatte. Das Jobcenter Erfurt kürzte ihm daraufhin entsprechend der gesetzlichen Vorgaben die Hartz-4-Bezüge zunächst um 30 Prozent, dann um 60 Prozent. Das Sozialgericht in Gotha hatte den Fall an das Bundesverfassungsgericht gegeben. Die Richter in Thüringen halten die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen für verfassungswidrig (AZ: S 15 AS 5157/14).
Hartz 4 vor dem Bundesverfassungsgericht
Durch die Kürzungen werde in das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums eingegriffen. Dass Hartz-4-Beziehern Strafen drohen, wenn sie zumutbare Arbeit ablehnen, verstößt nach Ansicht der Richter aus Gotha gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit. Werde durch die Leistungskürzungen die Gesundheit der Leistungsberechtigten gefährdet, werde auch das Recht auf Leben verletzt.
In der mündlichen Verhandlung am 15. Januar sagte Stephan Harbarth, Vizepräsident des Verfassungsgerichts, das Gericht werde prüfen, ob die Hartz-4-Sanktionen durch das Grundgesetz gedeckt seien. Es gehe darum, ob die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele geeignet und zumutbar für die Betroffenen seien.
Im Verfahren geht es um den Fall aus Gotha, der dem Thema die Grenzen vorgibt: Es geht laut Richter Stephan Harbarth nicht um das Versäumen von Meldepflichten, Sanktionen gegen unter 25-Jährige und auch nicht um die Höhe der derzeit geltenden Regelsätze.
Ein Blick auf Hartz 4, mögliche Hartz-4-Sanktionen und die damit verbundenen rechtlichen Fragen:
Wie hoch ist der Regelsatz für Hartz 4?
Der Regelsatz für Hartz 4 liegt bei Alleinstehenden momentan bei 424 Euro im Monat (ab 2020: 432 Euro). Ein Paar erhält 764 Euro (ab 2020: 778 Euro). Kommen Kinder dazu, erhöhen sich die Leistungen. 2018 erhielten 5,6 Millionen Menschen Hartz 4.
Welche Hartz-4-Sanktionen gibt es?
Wenn Hartz-4-Bezieher gegen bestimmte Pflichten verstoßen, kann das Arbeitslosengeld II gekürzt werden - und bei weiteren Verstößen sogar komplett wegfallen. Kürzungen gelten für jeweils drei Monate. Einige Beispiele: Wer einen Termin beim Jobcenter nicht einhält, muss mit einer Kürzung um zehn Prozent des Regelsatzes rechnen. Wer eine Arbeit ablehnt, die als zumutbar eingestuft wurde, muss damit rechnen, dass er 30 Prozent weniger Geld bekommt - bei Wiederholungen sind es sogar 60 Prozent. Das geht bis zur kompletten Streichung des Regelsatzes für drei Monate.
Bei Menschen unter 25 Jahren ist die Gesetzgebung noch strenger: Bereits beim ersten Verstoß, der über einen versäumten Termin hinausgeht, werden die Leistungen komplett gestrichen.
Wie oft werden Hartz-4-Sanktionen ausgesprochen?
2018 kam es nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit zu rund 904.000 Sanktionen gegen Hartz-4-Empfänger. Ein Großteil davon entfiel allerdings auf Fälle, in denen ein Termin ohne wichtigen Grund nicht eingehalten wurde (zehn Prozent Abzug). Insgesamt wurden 441.000 Menschen 2018 die Leistungen gekürzt, teilweise auch mehrfach.
Was sagt das Bundesverfassungsgericht bisher zu Hartz 4?
2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht die damaligen Hartz-4-Leistungen für verfassungswidrig. Die Vorschriften erfüllten nicht den „verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimus“, entschieden die Richter damals. Der Gesetzgeber sollte daraufhin die Hartz-4-Sätze neu berechnen. 2014 stufte das Bundesverfassungsgericht die neuen Hartz-4-Leistungen als „derzeit noch“ verfassungsgemäß ein. In diesem Verfahren geht es jedoch nicht um die Höhe der Hartz-4-Sätze.
Wie könnte das Urteil des Bundesverfassungsgericht zu Hartz-4-Sanktionen aussehen?
Werden die Richter die Hartz-4-Sanktionen komplett kippen? Das ist wohl eher unwahrscheinlich. Es könnte aber sein, dass sie eine Veränderung der Sanktionen verlangen. In der Verhandlung hat der Senat sehr genau nachgefragt: Wie gehen die Jobcenter mit psychisch Kranken um? Bekommen die Mitarbeiter mit, wenn jemand verelendet? Und wie reagieren sie dann? Einmal verhängt, kann eine Sanktion nicht mehr zurückgenommen werden, und wenn der Betroffene sich noch so einsichtig zeigt. Die Jobcenter können aber Gutscheine für Lebensmittel, Hygieneartikel oder Bustickets ausgeben und dem Vermieter oder Energieversorger direkt Geld überweisen. Sind Kinder betroffen, muss das Amt helfen.
Debatte um Hartz 4 - worüber wird diskutiert?
Hartz 4 ist politisch umstritten - und das Urteil dürfte die Debatten wieder aufleben lassen. Diskutiert wird unter anderem über die Sanktionen allgemein und über die besonders scharfen Sanktionen für Personen unter 25. Auch die Höhe der Hartz-4-Sätze wird immer wieder kritisiert.
Der Verein „Sanktionsfrei“ von Geschäftsführerin Helena Steinhaus unterstützt Hartz-4-Empfänger*, wenn das Jobcenter den Regelsatz kürzt oder streicht. Steinhaus ist überzeugt davon, dass Hartz-4-Sanktionen falsch sind.
Hartz 4 vor dem Bundesverfassungsgericht - wie geht es weiter?
„Würde das höchste deutsche Gericht die Sanktionen für verfassungswidrig erklären, fiele das während der vergangenen Jahre durch nicht weniger als zehn Änderungsgesetze des Sozialgesetzbuches II „nachgebesserte“ Hartz-4-System wie ein Kartenhaus in sich zusammen“, schreibt der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge in einem Gastbeitrag* für die Frankfurter Rundschau . „Falls die Sanktionen – politische Achillesferse des Arbeitsmarktregimes – in Karlsruhe hingegen bestätigt werden, erleidet der Kampf gegen Hartz 4 einen herben Rückschlag“, so Butterwegge weiter.
(mit Material von afp, dpa und epd)
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