Joe Kaeser: Es gibt viele schöne Orte, aber ich will gar keinen hervorheben, sonst werde ich nur geschimpft... Wir haben in Arnbruck das Glasdorf, – auch der Osser ist ein herrliches Ziel. Früher ging mitten durch die Osserhütte die Grenze: Das Bierstüberl war sozusagen in Bayern, das Pilsnerstüberl war in der damaligen Tschechoslowakei.
Heute zieht es alle in die Stadt, was spricht fürs Land? Sie leben inzwischen ja in München, aber Arnbruck ist ja immer noch Ihr Rückzugsort.
Kaeser: Man hilft sich gegenseitig. Wenn mal jemand zwei Tage nicht aus dem Haus geht, dann schaut man nach. Ich möchte nicht wissen, wie viele Leute in der Stadt einsam sind, weil sie einfach kein soziales Gefüge haben. Deshalb hat das Land auch eine soziale, integrative Komponente, die die Urbanisierung nicht immer bietet. Wenn ich mir was wünsche für Bayern und für Deutschland, dann, dass sich das Geschehen noch weiter dezentralisiert. Das ist eine gute Methode, den sozialen Frieden zu stärken, die drohende Spaltung in Stadt und Land strukturell zu befrieden.
Viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben Angst vor der Zukunft, den Herausforderungen der Digitalisierung, dem Tempo der Globalisierung, dem sozialen Abstieg – Sie können auf viele Herausforderungen in Ihrem Leben zurückblicken: Haben Sie etwas für uns, dass Sie uns mitgeben würden fürs neue Jahr?
Kaeser: Ich würde den Menschen in Deutschland vor allem Mut machen, weil wir an einem der allerbesten Orte der Welt leben. In einer demokratischen und zivilisierten Gesellschaft, die weiß, was Zusammenhalt bedeutet. Wir sind insgesamt ein vermögendes Land. Wir haben immer noch genügend Ideen und Technologie und auch Unternehmertum, insbesondere in den Eigentümer-geführten meist mittelständisch geprägten Firmen. Wir können uns in der Welt mit Innovationen behaupten. Das darf man nicht vergessen. Aber: Man darf sich natürlich auch nicht auf dem Wohlstand und dem Erreichten ausruhen. Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, mit der Zeit Dinge wie den sozialen Frieden, wie die bürgerliche Sicherheit, einen ausgeprägten Wohlstand, ein Gesundheitssystem, das insgesamt intakt ist, als Selbstverständlichkeit zu begreifen. Alles Dinge, die unsere Eltern erarbeitet haben und um die uns weite Teile der Welt beneiden.
Joe Kaeser, 1957 in Arnbruck im Bayerischen Wald geboren, stammt aus einfachen Verhältnissen: Der Vater war Fabrikarbeiter, die Mutter Hausfrau. Nach dem Betriebswirtschaftsstudium in Regensburg fing Kaeser 1980 bei Siemens an und machte eine steile Karriere, u. a. mit einer Zwischenstation in den USA, wo er Chef zweier Siemens -Tochterfirmen wurde, im Silicon-Valley lebte – und sich im Look offensichtlich an Schauspieler Tom Selleck („Magnum“) orientierte. 2006 wurde Kaeser zum Finanzvorstand ernannt, 2013 wählte ihn der Aufsichtsrat schließlich zum Vorstandsvorsitzenden des Konzerns, den er bis Februar dieses Jahres führt. Heute lebt der Topmanager in München – und ist Chef der Aufsichtsräte von Siemens energy und der Daimler Truck Holding AG.
Auch wenn das Gesundheitssystem jetzt in der Pandemie an seine Grenze zu kommen scheint …
Kaeser: Aber am Ende des Tages schützt es uns und hilft jedem. Einfacher wäre es, wenn wir uns alle impfen lassen würden. Wir haben ein rechtsstaatliches System, auf das Verlass ist. Die Gerichtsbarkeit ist getrennt von der Politik. Man muss nicht weit an östliche Grenzen gehen, um zu sehen, dass es auch anders sein kann. Ich glaube, wir tun gut daran, wenn wir die Zeit zwischen den Jahren auch nutzen, uns darauf zu besinnen, wie wir in der Welt dastehen. Und das sollte uns Mut machen.
Sie sagen, die Wirtschaftskraft der deutschen Unternehmen ...
Kaeser: … ist extrem stark. Natürlich sind wir nicht diejenigen, die in Sachen Internet geglänzt haben. Aber Deutschland ist immer noch ein starkes Innovationsland und hat vor allem ein Handwerk, das man so in dieser Qualität und Güte nirgends auf der Welt findet. Das gilt auch für das Bildungssystem mit der dualen Ausbildung und einigen Universitäten.
Das macht wirklich Mut ...
Kaeser: Ja, den sollten wir wirklich haben. Trotzdem müssen wir weiter hart arbeiten, dürfen nicht zu bequem werden, alles als gegeben hinnehmen und immer, wenn etwas schiefgeht, gleich nach dem Staat rufen.
Ein Plädoyer für mehr Selbstverantwortung?
Kaeser: Ja, unbedingt. Aber wer sich redlich bemüht hat und sich dann trotzdem nicht mehr zurechtfindet, der sollte sich auf den Schutz des Staates verlassen dürfen. Der Staat muss die Würde des Menschen, die ja in unserer Verfassung ganz vorne steht, absichern.
An was denken Sie da konkret?
Kaeser: Wenn Menschen in Deutschland hart arbeiten und damit ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen oder ihren Lebensabend nicht mehr in Würde bestreiten können. Dann sollte man miteinander reden, wie wir das besser machen.
Hilft der Mindestlohn?
Kaeser: Das geht aus meiner Sicht in die richtige Richtung – als Notfalltherapie.
Was wäre besser?
Kaeser: Den vielen Menschen, die zu dieser Niedriglohngruppe gehören – es sind ja fast acht Millionen –, über eine durchlässigere Bildung die Chance zu geben, qualifizierte Berufe zu erlernen. Notwendigenfalls auch finanziert durch eine Umverteilung. Dazu hat der Staat, finde ich, auch das Recht.
Könnte das bedingungslose Grundeinkommen eine Lösung sein, soziale Integration abzusichern? Sie sind ja angeblich einer der Befürworter?
Kaeser: Das wurde mir immer wieder zugeschrieben. Aber mir ging es dabei immer um die würdevolle Versorgung im Alter. Da denke ich, werden wir um eine Grundsicherung nicht herumkommen. Ansonsten stört mich der Begriff „bedingungslos“. Ich sage: Jeder muss einen Beitrag leisten, sich einsetzen. Wenn er oder sie dann trotz aller Bemühungen nicht das Tempo mitgehen kann, das Deutschland benötigt, um mit der Welt Schritt zu halten, dann müssen wir diesen Menschen die Möglichkeit geben, in Würde zu leben. Und dann bin ich auch mit einem Grundeinkommen dabei. Aber eben nicht bedingungslos.
Wie hoch sollte das sein?
Kaeser: Das hängt von vielen Dingen ab. Auf dem Land kommt man vielleicht mit 1400 oder 1500 Euro aus. Wenn man zum Beispiel in der Nähe von München leben muss, weil man dortvielleicht in der Pflege arbeitet oder in einem Beruf tätig ist, der nicht so gut bezahlt wird, kommt man mit 1500 Euro nicht weit. Deshalb kommt es immer drauf an, wo diese bedürftigen Menschen leben sollen oder müssen.
Sie sind ein Experte für Veränderungsprozesse. Sie haben Siemens umgebaut und völlig neu für die Zukunft aufgestellt, Was kann die Politik von Siemens lernen? Kann man ein Land führen wir ein Wirtschaftsunternehmen?
Kaeser: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, das kann man nicht vergleichen. Ich gebe Ihnen auch ein Beispiel: Wenn Sie ein Unternehmen führen, dann ist man als guter Vorstand natürlich auch darauf aus, möglichst viele Menschen mitzunehmen, den Konsens zu suchen – denn die Mitbestimmung ist ein ganz wichtiges Gut einer intakten sozialen Marktwirtschaft. Aber es gibt oft Situationen, wo eine basisdemokratische Ordnung nicht mehr weiterführt – und zwar meist dann, wenn es darum geht, die Vergangenheit nicht mehr nur weiterzuentwickeln, sondern etwas grundlegend Neues für die Zukunftssicherung zu bauen.
Das ist spannend – können Sie das noch erklären?
Kaeser: Da gibt es Momente, wo Führung auch eine klare Ansage erfordert: Ich mach das jetzt und nehme das auf meine Verantwortung! So wie bei Siemens. Ich bin mir relativ sicher, wenn die fast 400 000 Kolleginnen und Kollegen weltweit, basisdemokratisch abgestimmt hätten, wäre die Transformation der Siemens AG abgelehnt worden. Ich bin mir noch nicht mal ganz sicher, ob mir die Top 50 Führungskräfte – bei einer geheimen Abstimmung – eine Mehrheit gegeben hätten. Das darf man aber auch nicht übelnehmen. Die Veränderung war gewaltig – auch für jeden Einzelnen. Heute können wir im Blick zurück sagen: Seht ihr, das war richtig. Die Unternehmen stehen so gut da wie noch nie. Wenn man die drei Siemens-Unternehmen zusammenzählt, dann kommen heute Börsen-Bewertungen heraus, die hat es noch nie gegeben. Allein die Siemens-Gesundheitstechnik, die ja im Konzern immer eine kleine, aber feine Randerscheinung war, ist jetzt als Unternehmen an der Börse mehr wert als so namhafte Marken wie BMW, Bayer oder BASF. Da ist natürlich hinterher leicht reden: Haben wir alles super gemacht. Im Unternehmen können Sie auch einsame Entscheidungen im Nachhinein durch Erfolg legitimieren. Aber so etwas geht in der Politik nicht. Deshalb funktioniert Regieren in einer Demokratie anders als das Führen von Unternehmen.
Wieso?
Kaeser: Wenn man als Bundesregierung keine Mehrheit in der Koalition bekommt, kann ein Bundeskanzler trotz Richtlinienkompetenz nicht einfach sagen: Fein, ich höre euch, aber ich mache das jetzt trotzdem. Ihr werdet schon sehen, der Erfolg gibt mir recht. Ohne Mehrheiten kommen Sie gar nicht zum Erfolg. Das ist eine große Bürde, die die Politik hat. Sie muss viel stärker auf Meinungsintegration und Kompromisse ausgelegt sein – und hat oft auch noch zu wenig Zeit.
Weil die Wahlperioden so kurz sind?
Kaeser: Ja, für grundlegende Transformationen benötigt man meistens mehr als drei oder vier Jahre. Ich bin 2013 Vorstandsvorsitzender geworden und im Grunde hat man erst 2020/21 gesehen, also gerade noch rechtzeitig (lacht), wie erfolgreich das alles geworden ist. Wenn ich mich damals nach drei oder vier Jahren mitten im Umbau als Vorstandschef hätte zur Wahl stellen müssen, wer weiß, ob ich dann wiedergewählt worden wäre.
Was zählt heute bei der Unternehmensführung?
Kaeser: Der langfristige Erfolg – und zwar nicht nur der Gewinn. In den USA lautete früher das Credo: The Business of Business is Business, was heißt: Die einzige Aufgabe des Managers ist es, dafür zu sorgen, dass der Gewinn der Firma und damit der Wert für Aktionärinnen und Aktionäre – also der Shareholder Value – steigt. Aus Gesellschaft und Politik hält man sich raus. Das hat sich grundlegend geändert. Ohne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ohne Kunden gibt es kein Shareholder-Value. Ohne Belegschaft gibt es keine Produkte, ohne Kunden keine Beschäftigung. Außerdem spielt immer stärker die Gesellschaft als vierte Anspruchsgruppe eine Rolle. Die Gesellschaft hat ein Interesse daran, was Unternehmen tun. Und haben die Produkte denn einen Mehrwert für die Gesellschaft?
Und?
Kaeser: Kommt aufs Unternehmen an. Bei den Siemens-Unternehmen schon: Healthineers retten Leben, Siemens Energy sorgt für Strom und Wärme und die neue Siemens AG macht das Arbeitsleben produktiver und nachhaltiger. Diese Dinge würden der Allgemeinheit fehlen. Sollte es Facebook nicht mehr geben, würde die Welt weiterhin weitgehend gesund bleiben, verlässlichen Strom und nachhaltige Infrastruktur haben.
Das heißt, Gesellschaften können den Kurs der Unternehmen bestimmen?
Kaeser: Sie sollten mitbestimmen, wie sich erfolgreiche Unternehmen entwickeln. Die Frage, was Unternehmen für die Gesellschaft tun, wird auf jeden Fall immer wichtiger. Ich gehe heute schon so weit und sage, dass es in Demokratien die Gesellschaft ist, die die Lizenz zum Geschäftemachen vergibt. Für den Erfolg ist aber dann das Management verantwortlich.
Stichwort Börse.... Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie ihr erstes Geld verdient haben?
Kaeser: Ich habe Zeitungen ausgetragen. Heute wäre das wohl strafbar, weil damals war ich noch ein Kind... Als ich älter wurde, ging es dann vor allem darum, möglichst schnell richtig Geld zu verdienen: Das konnte man auf dem Bau.
Was war Ihr Job?
Kaeser: Ich durfte mit einem Kollegen aus der Türkei – damals hat man Gastarbeiter gesagt – die Arbeiten machen, die die Deutschen nicht machen wollten. Zum Beispiel mit dem Presslufthammer Löcher in Betondecken stemmen.
Was haben Sie mit Ihrem Lohn gemacht?
Kaeser: Ich habe mir Kleidung gekauft. Kleidung wie sie die Coolsten in der Klasse trugen. Das waren damals Schlaghosen, die mussten über die Schuhe gehen und waren dann zu 360-Grad ausgefranzt. Die waren teuer. Und davon hab ich mir gleich zwei gekauft.
Wie wurde das zu Hause kommentiert?
Kaeser: Meine Großmutter meinte nur: „Hätt‘s nicht auch eine getan...“
Und wie war es, als Sie Ihr erstes Gehalt als Vorstandsvorsitzender überwiesen bekamen? Schaut man sich da die Abrechnung schon mal genauer an?
Kaeser (schmunzelt): Das erste Mal schaut man schon ganz genau hin, weil sich die Beträge – auch die Abzüge, inklusive der Kirchensteuer – ja deutlich ändern.
Ihr Jahresgehalt lag bei mehreren Millionen Euro.
Kaeser: Die materielle Absicherung ist natürlich etwas Luxuriöses, für die man dankbar sein muss. Aber die persönliche Verwirklichung ergibt sich dann eher über das, was man mit dem Unternehmen erreicht, und nicht über das, was man an Vermögen angehäuft hat.
Anfang des Jahres haben Sie die Verantwortung als Vorstandsvorsitzender abgegeben. Wie groß ist für Sie die Veränderung?
Kaeser: Schon merklich, weil man nicht mehr so sehr im Rampenlicht steht und täglich dafür sorgen muss, dass die Dinge weitergehen. Und mein Kalender ist jetzt sehr viel selbstbestimmter. Ich konnte leichter loslassen, als ich und vor allem viele andere das je gedacht hätten.
Schlafen Sie besser?
Kaeser: Nein, ich konnte immer an jedem Ort zu jeder Zeit schlafen. Gott sei Dank. Sonst hätten mich die Zeitverschiebungen bei den vielen Reisen wohl zermürbt.
Sie haben Geschäftspartner und Politiker in mehr als 200 Ländern getroffen – wie wurden Sie dabei wahrgenommen, als Siemens-Chef oder auch als Bayer?
Kaeser: Das kommt auf die Wirtschaftsregion an. Aber man wird zunächst mal als Siemens-Chef wahrgenommen – also als Chef eines globalen Unternehmens, das auf der ganzen Welt Menschen beschäftigt und das irgendwie – zumindest früher – alles macht. Interessanterweise glauben immer noch viele, dass die Hausgeräte eine der größten Sparten sind. Das ist aber gar nicht mehr Siemens, sondern Bosch. Die haben nur das Markenrecht. Dann spielt es eine Rolle, dass Siemens seinen Sitz in Deutschland hat. Und Deutschland genießt großes Ansehen.
Was macht das aus?
Kaeser: Vieles von dem Ansehen wurde von Angela Merkel mitbestimmt. Ich kann mich gut erinnern, als sie physisch angeschlagen schien. Da war überall eine der ersten Fragen an mich: Wie geht es der Bundeskanzlerin? Das hat die Welt gesorgt, weil sie als Garantin für den Zusammenhalt Europas stand.
Wie denkt man über Bayern?
Kaeser: München ist vielen mehr ein Begriff als Bayern. Die Bundeskanzlerin – und Bayern München, das waren oft Gesprächsthemen.
Viele Bayern spielen leidenschaftlich gern Schafkopf, Sie auch?
Kaeser: Ja – und auch gern mal Skat. Aber in Bayern wird natürlich meistens Schafkopf gespielt.
Zu welchen Tarifen?
Kaeser: Ein Spiel kostet 20 Cent, der Ober 10, das Solo 50. Es geht ja nicht wirklich ums Geld.
Drei bis vier Euro können da aber auch mal zusammenkommen....
Kaeser: Ein bisschen wehtun muss es ja schon… (lacht)
Wann gibt’s denn die nächste Runde?
Kaeser: Das ist ja wegen der Pandemie jetzt nicht so einfach, aber mit 2G-plus klappt es vielleicht, dass wir eine Runde spielen.
Silvester steht vor der Tür, wie feiern Sie? Mit Freunden und Böllern?
Kaeser: Mit Böllern garantiert nicht, das ist ja verboten, aber ich war auch noch nie ein großer Kracherfreund. Und außerdem ist einfach nicht die Zeit dazu. Tausende Menschen werden in Krankenhäusern sein, viele werden um ihr Leben kämpfen. Das ist nicht die Zeit, die Böller krachen zu lassen, das ist die Zeit, zurückzudenken.
Was fällt Ihnen zu 2021 ein?
Kaeser: Wie schrecklich eine Pandemie sein kann, wie Naturkatastrophen ganze Existenzen vernichten, aber auch, wie geordnet, fair und demokratisch ein Regierungswechsel erfolgen kann. Dazu kommt Dankbarkeit – dass man gesund ist, Kinder und Enkel hat, die einem Freude machen.
Interview: Wolfgang de Ponte